Günter Schabowski, unabsichtlicher Beseitiger der Mauer

© Bundesarchiv, Bild 183-1982-0504-421 / CC-BY-SA 3.0

Name: Günter Schabowski

Lebensdaten: 4. Januar 1929 in Anklam bis 1. November 2015 in Berlin

In aller Kürze: Günter Schabowski war ein wichtiges Mitglied des Politbüros der DDR. Durch ein Versehen beseitigte er die Mauer etwas früher als gedacht, womit seine Worte in die Geschichte eingingen. Nach der Wende wurde er zum deutlichen Kritiker des politischen Systems des Ostblocks.

Im Detail: Ich habe ja in diesem Blog schon mehrfach festgestellt, dass das Projekt Unprominente auch einen Filterblasenfinder darstellt – manche Leser sind verblüfft, wer der Unprominente ist, manche dagegen sind verwirrt, dass irgendjemand die Person nicht kennen könnte.

Unser heutiger Unprominente ist da ein sehr extremes Beispiel. Ältere Leser werden sofort wissen, wer Günter Schabowski war. So sehr, dass der Spruch „nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich“ gelegentlich verwendet wird, um etwas als zweifelhafte Information klarzustellen. Viele Menschen, die den Mauerfall nicht mitbekamen, schauen dann nur verwirrt. Wer also war Günter Schabowski?

Geboren wurde er am 4. Januar 1929 in Anklam, einer kleinen Stadt in der Nähe von Greifswald (heute in der Nähe von Polen, aber die Oder-Neiße-Grenze sollte erst nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen werden). Sein Vater war Klempner.

Wer aufgepasst hat, dem wird sofort auffallen, dass Schabowski damit gerade vier Jahre alt war, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Damit waren seine prägenden Jahre von den Nazis bestimmt. Er sollte sogar der Hitlerjugend beitreten und bis zum Rang des Scharführers aufsteigen. Dieser Rang entspricht in etwa einem Feldwebel, weil die militaristische HJ wie alles im NS-Staat militärische Dienstgrade imitierte. In der Praxis nahm aber kaum ein Erwachsener die Befehlsgewalt eines minderjährigen „Feldwebels“ ernst. Trotzdem nicht gerade ein niedriger Rang.

Damit bekam er aber auch den Untergang und das Scheitern des Hitler-Regimes mit und entwickelte sich im Kontrast dazu, zum Sowjetsozialisten.

(Anmerkung: Ich werde im Verlauf dieses Artikels, die Staatsform(en) des Ostblocks als „Sowjetsozialismus“ bezeichnen. Mir ist durchaus klar, dass die DDR und die Sowjetunion nicht exakt dasselbe System hatten. Das Problem ist einfach, dass der Begriff „Sozialismus“ heutzutage viel zu vage ist, um irgendetwas zu bedeuten. Er kann alles beschreiben zwischen nicht ganz unreglementiertem Kapitalismus und Kommunismus und allem dazwischen. Das bedeutet übrigens auch, dass jeder, der Ihnen erzählt, der Sozialismus wäre eine Gefahr/Lösung aller Probleme, Ihnen ein unscharfes, vages Etwas als besonders gefährlich/großartig verkaufen möchte. Ohne Präzisierung ist diese Aussage wertlos. Daher die Bezeichnung „Sowjetsozialismus“, auch wenn dieser von sich natürlich behauptete, der einzig wahre Sozialismus zu sein.)

Als Günter Schabowski 1946 in einem zertrümmerten und besetzten Land die Schule abschloss, trat er dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) bei. Das war eine ungewöhnliche Entscheidung, denn normalerweise gehen Leute erst in einen Beruf und treten dann der Gewerkschaft bei. Für Günter Schabowski war es dagegen der Weg in seine Berufung. Er war nämlich vor allem Journalist und fand seinen Weg in diese Tätigkeit zunächst als Volontär bei Die freie Gewerkschaft, dann ab 1947 als Redakteur der Gewerkschaftszeitung Tribüne, einer der wichtigsten Tageszeitungen der späteren DDR mit über 300.000 regelmäßigen Lesern.

Seine Neigung als Journalist und damit Wissensvermittler würde er mit in die Politik nehmen. In der DDR ging sein Weg damit jedoch in eine diktatorische Partei. 1950 trat er der Freien Deutschen Jugend (FDJ) bei, der Jugendorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Zwei Jahre später wurde Schabowski dann auch Mitglied der SED.

Seine politische Karriere stützte seine journalistische und umgekehrt – eine typische Verflechtung in Ein-Partei-Systemen. 1953 wurde er zum stellvertretenden Chefredakteur der Tribüne befördert, was wohl kaum ein Zufall war.

Man beachte, dass das das Jahr war, in dem Stalin verstorben war. Im Nachruf in der Tribüne war Stalin durch einen simplen Fehler des Setzers unabsichtlich kritisiert worden. Infolgedessen wurden der Setzer und sein Vorgesetzter von der Stasi abgeführt, unter Folter verhört und kamen für je fünfeinhalb Jahre hinter Gitter.

Im selben Jahr ereignete sich der Aufstand am 17. Juni 1953 war, den die Tribüne öffentlich verurteilte und sich auf die Seite der Partei stellte. Das war also das Blatt, in welchem Günter Schaboswki zum stellvertretenden Chefredakteur aufgestiegen war.

Zu diesem Zeitpunkt war Schabowski gar nicht als Journalist ausgebildet und trotzdem in eine so hohe Position aufgestiegen. Das klingt jetzt mehr wie Vetternwirtschaft, als es vermutlich war, denn die Ausbildungsmöglichkeiten in der Nachkriegszeit waren doch recht begrenzt. (Viele nur wenig ältere Jungen hatten während des Krieges sogar nur ein Notabitur erhalten, um als Minderjährige an die Front geschickt zu werden.) Es war aber schon ein Mangel, den der junge Journalist aufholte, indem er an der Karl-Marx-Universität in Leipzig ein Fernstudium abschloss. (Die Tribüne saß in Ostberlin, was mit damaligen Kommunikationsmitteln nicht gerade um die Ecke von Leipzig liegt.) Im Jahre 1962 konnte er sich offiziell Diplomjournalist nennen.

Wer Eifer und Linientreue derart gut verbindet, der wird in einer Diktatur belohnt. So durfte er von 1967 bis 1968 die Parteihochschule der KPdSU besuchen. Das war eine Ausbildungsstätte, in der die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) ihre Funktionäre ausbildete. Viele bedeutenden Parteigenossen aus den Satellitenstaaten der UdSSR wurden dort ebenfalls ausgebildet – in Fächern wie marxistisch-leninistische Philosophie, sowjetsozialistische Planwirtschaft, Aufbau der Partei, Landwirtschaft usw. Dafür musste einen das sowjetische Zentralkomitee vorschlagen. Es war auch ein weiteres Mittel der Sowjetunion ihre „Bruderstaaten“ an sich zu binden. Da der Unterricht auf Russisch abgehalten und die meisten Leute nicht die Zeit haben, in zwei Fremdsprachen fließend zu werden, beherrschten damit die meisten politischen Kader der Satellitenstaaten nur ihre Muttersprache und Russisch.

Eine solche Ausbildung war geradezu ein Garant für eine politische Karriere in der DDR. So arbeitete Günter Schabowski direkt nach seiner Rückkehr für die SED-nächste Tageszeitung der DDR Neues Deutschland. (Die gibt es übrigens immer noch, wenn auch unter dem Namen nd.) Dort war er zehn Jahre lang als stellvertretender Chefredakteur tätig, bevor er 1978 zum Chefredakteur aufstieg. In dieser Position blieb er bis 1985.

Seine Karriere war auch mit einigen weiteren Funktionen verbunden, die Schabowski in Personalunion erfüllte. Er war Mitglied des Zentralvorstands des Verbandes der Journalisten der DDR (VDJ) und Mitglied der Agitationskommission des Politbüros (so etwas wie das Propagandaministerium der DDR – der Leninismus unterscheidet zwischen Agitation und Propaganda, aber in der Praxis ist das weitestgehend Haarspalterei).

Ab 1981 saß Schabowski dann in der Volkskammer, dem nominellen Parlament der DDR. In das Zentralkomitee (ZK) wurde er ebenfalls 1981 aufgenommen. Damit gehörte Günter Schabowski zu den wenigen dutzend Leuten, die den Unrechtsstaat der DDR kontrollierten. In den inneren Kreis dieser, das Politbüro, stieg er 1984 auf.

1985 übernahm Schabowski noch einen weiteren Posten, der seine Regimetreue besonders zeigt. Zuvor war Konrad Naumann abgesägt worden. Naumann war Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin und im Politbüro für Kulturpolitik zuständig. Er war definitiv Hardliner, aber er war auch gelegentlich gnadenlos ehrlich. Deshalb sprach Naumann in einer Rede vor einigen Professoren der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED schon 1985 offen an, wie der Rückhalt der SED der Bevölkerung drastisch fiel und gerade junge Leute kaum noch an die Herrschaft der SED glaubten. Infolgedessen wurde Konrad Naumann von all seinen Ämtern enthoben.

Und Günter Schabowski übernahm gerne dessen Posten als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin. Er war also nicht etwa auf der Seite des Kritikers, sondern artiger Unterstützer Erich Honeckers. Nachdem er 1986 zum Sekretär im Politbüro aufstieg und damit Honecker direkt unterstellt war, wurde er sogar als dessen Nachfolger gehandelt.

Das wird noch sehr wichtig werden, denn Schabowski sollte nach der Wende der einzige hohe SED-Funktionär sein, der offen mit dem Regime abrechnete. Dabei würde er gelegentlich behaupten, er hätte bereits 1989 starke Zweifel an der Herrschaft der SED gehabt.

Das ist leider ziemlich sicher nicht wahr. Im Gegenteil, er wollte die Presse nutzen, um die zunehmenden Unruhen in der DDR zu untergraben, deren Ausmaß er weiterhin nicht sah oder sehen wollte. Diese Stoßrichtung brachte ihn auch in die Situation, die ihn zum Unprominenten machte.

Seine neue Ausrichtung brachte ihn nämlich zunehmend in den Kontakt mit dem Volk und machte ihn zum Sprachrohr des Politbüros. Am 4. November 1989 wollte er auf einer Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz reden, wurde aber von der Menge ausgepfiffen. (Er sollte dieses Pfeifkonzert später als „Abgesang auf die SED“ bezeichnen.)

Vorerst wurde Günter Schabowskis Rolle als Sprecher des Politbüros formalisiert, als er am 6. November 1989 zum Sekretär des ZK der SED für Informationswesen ernannt – einer frisch geschaffenen Position, die so etwas wie der Regierungssprecher sein sollte.

Im April 1986 hatte der XI. Parteitag der SED stattgefunden und zwischen den Parteitagen, die das Zentralkomitee wählten (zumindest auf dem Papier), berief das ZK Tagungen ein, um spezifische Probleme anzugehen. Vom 8. bis zum 10. November 1989 fand die 10. Tagung des ZK nach dem XI. Parteitag statt, welche auf um die Revolutionsbemühungen im gesamten Ostblock eine Antwort finden sollte. Im Anschluss an jeden Geschäftstag sollte der neue Sekretär für Informationswesen eine Pressekonferenz halten.

Das Ganze ging dann spektakulär schief. Denn am 9. November bekam eine des Innenministeriums den Auftrag, Möglichkeiten der Ausreise für die Scharen an Fluchtwilligen zu schaffen. Die DDR sah sich genötigt, dies zu ermöglichen, weil ihre Bürger immer wieder über (dadurch ziemlich genervte) Drittstaaten in die BRD flohen – bspw. im September über die bundesdeutsche Botschaft in Prag.

Die Schaffung dieser Regelungen lief jedoch alles andere als glatt. Die Arbeitsgruppe hatte es ursprünglich zur Bedingung machen sollen, dass die Ausreisenden dann ihre DDR-Staatsbürgerschaft verlören und nicht wiederkommen durften. Darüber setzte sie sich jedoch hinweg und ermöglichte die allgemeine Ausreise und Wiederkehr. Der Generalsekretär (mittlerweile übrigens Egon Krenz), das Politbüro und das ZK segneten diesen Vorschlag dennoch ab, was für dann doch ziemlich überraschend war.

Besonders überrascht wurde Günter Schabowski. Diese Entscheidung sollte nämlich erst am 10. November verkündet werden, um die Grenztruppen überhaupt vorwarnen zu können. Weil Schabowski damit beschäftigt war, die Presse zu dirigieren, um die Lage in der DDR halbwegs unter Kontrolle zu bekommen, hatte er die Debatte um die neuen Reiseregeln verpasst und ihm wurde nur eine unvollständige Gesprächsnotiz gegeben, auf der der Termin des 10. November nicht klar herausgestellt wurde.

Er hatte keine Zeit, diesen noch groß zu lesen, bevor er in die Pressekonferenz ging. Dort verkündete er den Reisebeschluss auf Anfrage eines italienischen Journalisten. (Übrigens im deutlich verwirrten Tonfall, weil er offenbar dachte, dieser wäre längst verkündet worden.)

Auf die sofortige Rückfrage, wann denn dieser Beschluss in Kraft trete, antwortete Günter Schabowski mit seinem legendären Satz: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

Das war ein absoluter Paukenschlagen, den man danach auch nicht mehr zurücknehmen konnte, weil die Nachricht der Grenzöffnung sofort um die ganze Welt ging. Die innerdeutsche Grenze war schließlich nicht irgendein Teil des Eisernen Vorhangs. Die Berliner Mauer war ein ständiger Reibepunkt zwischen den nuklearen Machtblöcken gewesen.

Infolgedessen strömten tausende Menschen in Richtung der Grenze – auf bewaffnete Grenzer zu, die keinerlei Ahnung hatten, dass sie diese durchlassen sollten. Der Schießbefehl an der Grenze war zwar schon im April 1989 aufgehoben worden, aber wenn große Menschenmengen, die (übrigens von Ost und West) auf bewaffnete Truppen zuströmen, dann kann das gehörig schiefgehen.

Doch der Prozess verlief friedlich und die Mauer war Geschichte. Im Jahr danach kam die Wiedervereinigung.

Irgendwann um diese Zeit muss Günter Schabowski klargeworden sein, dass das Ende des Sowjetsozialismus eine reine Frage der Zeit war. Als er von Parteigenossen für die Grenzöffnung kritisiert wurde (die er gar nicht entschieden, sondern bloß einigen Stunden beschleunigt und damit eine gefährliche Situation geschaffen hatte), so soll er erwidert haben: „Wenn ein System daran zu Bruch geht, dass sich die Menschen frei bewegen können, hat es nichts Besseres verdient.“

Trotz der faktisch sehr geringen Wirkung wurde die Pressekonferenz legendär. Schabowski selbst würde sie später als „Sargnagel des Sozialismus“ bezeichnen.

Überhaupt sollte er nach der Wende der einzige hohe SED-Funktion sein, der das DDR-Regime öffentlich verurteilte: „Der Kommunismus wurde von den Menschen, die er zu beglücken vorgab, von der Weltbühne gefegt. Er ist wirtschaftlich gescheitert, hat sozial versagt. Er hat sich als eine blutige Diktatur erwiesen. Und er war unfähig, sich zu läutern. Auch ich habe mich nach diesem Fiasko leider erst danach gefragt, wie es dazu kommen konnte. Wer sich das ehrlich beantwortet, kann kein Kommunist mehr sein.“

Ob diese klaren Worte ein Zeichen echter Einsicht waren oder bloß ein Fahnenwechsel, so wie Schabowski als junger Bursche von der Hitlerjugend in den Gewerkschaftsbund gewechselt war, können wir nicht beantworten.

In jedem Falle schützen auch solche Reden nicht vor Konsequenzen. Am 3. Dezember 1989 trat das ZK geschlossen zurück. Januar 1990 wurde er von der Zentralen Schiedskommission der SED-PDS befragt und dann aus der Nachfolgepartei der SED ausgeschlossen.

Nach der Wiedervereinigung wurden die Mitglieder des Politbüros vor Gericht gestellt – erst ab 1992, weil es in Rechtsstaaten eben etwas dauert, die Fakten zu sammeln. Günter Schabowski musste sich dann ab 1995 vor Gericht verantworten: Aufgrund seiner Mitschuld an den Todesschüssen an der Mauer wurde wegen mehrfachen Totschlags angeklagt und 1997 zu drei Jahren Haft verurteilt.

Er sollte das Urteil in Interviews später als gerecht beschreiben, während der die Diktatur der DDR mit klaren Worten verurteilte. Wegen seiner Schuldeinsicht und guter Führung wurde er nach knapp einem Jahr begnadigt. Schabowski trat den Rest seines Lebens als Zeitzeuge und klarer Kritiker des Sowjetsozialismus auf. Güter Schabowski starb am 1. November 2015 im Alter von 86 Jahren in Berlin.

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