Stanley Milgram – ein legendäres Experiment zum Befehlsgehorsam

Name: Stanley Milgram

Lebensdaten: 15. August 1933 in New York bis 20. Dezember 1984 ebenda

In aller Kürze: Warum befolgen Menschen die grausamen Befehle eines autoritären Regimes? – Stanley Milgram führte hierzu ein legendäres Experiment durch, mit erschreckenden Ergebnissen.

Im Detail: Am 15. August 1933 wurde in New York ein Mann geboren, dessen psychologische Experimente unser Bild vom Menschen und der menschlichen Natur nachhaltig prägen sollten: Stanley Milgram. Sein nach ihm benanntes Milgram-Experiment zum Befehlsgehorsam lässt uns in die Abgründe menschlichen Handelns blicken.

Seine Eltern, Adele und Samuel Milgram, waren Juden, welche während des Ersten Weltkriegs aus Österreich-Ungarn ausgewandert waren. Als Betreiber einer Bäckerei hatten sie ein moderates Einkommen, mit dem sie ihren Nachwuchs versorgen mussten. Der junge Stanley war das mittlere von drei Kindern. Auch wenn er in den USA lebte, waren die Schrecken des Nazi-Regimes prägender Teil von Milgrams Jugend. Direkte Familienmitglieder, welche in Europa geblieben waren, waren in Konzentrationslagern ermordet worden. Einige der KZ-Überlebenden unter seinen Verwandten kamen nach dem Krieg gar bei den Milgrams vorübergehend unter.

Stanley besuchte zunächst die Grundschule und dann die High School. Schon dort fiel er nicht bloß als akademisch extrem begabt auf. Sein Charisma machte ihn auch sehr beliebt unter seinen Klassenkameraden. Anschließend studierte er gleichzeitig an zwei Unis: am Queens College Politikwissenschaft und am Brooklyn College Psychologie.

Seine Studienleistungen erlaubten ihm, 1954 seine Doktorarbeit an der renommierten Harvard-Universität zu beginnen. 1961 erlangte er dort seinen Doktorgrad. Im selben Jahr heiratete Milgram seine Frau Alexandra. Die beiden sollten zwei Kinder haben.

Schon seit 1960 war Dr. Milgram als Assistenzprofessor an der Yale-Universität tätig gewesen, als er 1963 als Assistenzprofessor zu Harvard wechselte. In diese Zeit fällt auch sein wichtigstes Experiment, das nach ihm als „Milgram-Experiment“ bekannt ist.

Das Milgram-Experiment zum Befehlsgehorsam

Geprägt durch seine Jugend, wollte Stanley Milgram im Jahre 1961 herausfinden, warum die Deutschen Hitler gehorcht hatten. Der Befehlsgehorsam wurde damals als zentraler Aspekt der Nazi-Verbrechen angesehen. Die Standardausrede der Angeklagten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse war schließlich eine Formulierung von: „Ich befolgte nur Befehle.“ (Diese Begründung ist daher international als die Nürnberger Verteidigung bekannt, Englisch: Nuremberg Defense.) Ob diese Erklärung so belastbar ist, darf bezweifelt werden – sehr viele Nationalsozialisten beteiligten sich an den Verbrachen des Dritten Reichs durchaus aus eigenem Antrieb. Aber der Befehlsgehorsam war zumindest ein wichtiger Teil des Regimes.

Bevor Milgram die deutsche Bevölkerung untersuchen konnte, was für jemanden in Amerika damals noch sehr viel aufwendiger gewesen wäre als heute, wollte er zumindest eine Vergleichsmessung in den USA durchführen. Die Amerikaner waren schließlich keinem faschistischen Diktator gefolgt. Also war es doch plausibel, er würde dort sehr geringe Raten an blindem Gehorsam vorfinden.

Milgram führte sein Experiment in den USA durch. Und machte sich danach nicht mehr die Mühe, es auch in Deutschland zu versuchen. Seine Ergebnisse waren schon in Amerika erschreckend.

Wie also funktionierte dieses legendäre Experiment? – Als erstes suchte Milgram per Aushang Freiwillige, die für 4 $ an einem Versuch zum Erinnerungsvermögen teilnehmen sollten (Abb. 1). Inflationsbereinigt entspricht dies heute etwas mehr als 40 $, kein Vermögen aber eine typische Kompensation für solche Versuche. In diesem Aushang stellte Milgram besonders heraus, dass er Männer aus allen Berufen und Gesellschaftsschichten suchte. (Der Aushang richtete sich explizit an Männer. Wobei damals das generische Maskulinum noch unreflektierter verwendet wurde als heute. Ob Milgram eine Frau abgewiesen hätte, wäre eine vorbeigekommen, weiß ich nicht.)

Abb.1. Milgrams Aushang, um Freiwillige zu finden.

Vor Ort trafen die Probanden einen Versuchsleiter und scheinbar einen weiteren Probanden, der in Wirklichkeit ein Schauspieler war. Die beiden „Probanden“ wurden mittels eines gezinkten Losverfahrens in die Rollen Lehrer und Schüler eingeteilt, wobei der echte Proband stets Lehrer wurde, der scheinbare Proband dagegen Schüler.

Der Versuchsleiter erklärte den beiden, es ginge um ein wichtiges Experiment dazu, wie man das Erinnerungsvermögen steigern könnte. Dafür sollte der Lehrer dem Schüler Fragen stellen. Und jede falsche Antwort mit stetig steigenden Elektroschocks bestrafen. Dem Probanden (Lehrer) wurde sogar ein leichter Elektroschock mit dem Versuchsaufbau gegeben, um die Täuschung realistisch wirken zu lassen.

Dabei wurde dieser Schock mit einem der weniger gruseligen Hebel ausgelöst. Denn dieser Versuchsaufbau hatte es in sich (Abb. 2): Der Schaltkasten verfügte über dreißig Schalter, welche angeblich immer stärkeren Schocks entsprachen. Beschriftet waren diese zunächst mit „Slight Shock“ (= „geringer Schock“), dann „Moderate Shock“ (= „mäßiger Schock“), dann Strong Shock (= „starker Schock“), dann „Very Strong Shock“ (= „sehr starker Schock“), dann „Intense Shock“ (= „intensiver Schock“; hier wechselte die Schriftfarbe von schwarz auf rot), dann „Extreme Intensity Shock“ (= „extrem intensiver Schock“), dann „Danger: Severe Shock“ (= „Gefahr: massiver Schock“), und die letzten zwei Schalter trugen nur die Beschriftung „XXX“.

Abb.2. Schematische Darstellung von Milgrams Schaltkasten.

Anschließend wurden der Lehrer (der eigentliche Proband) und der Schüler (der Schauspieler) getrennt und in verschiedene Räume geschickt, die mittels einer Freisprecheinrichtung verbunden waren. Nun sollte der Lehrer dem Schüler Wortpaare zu lernen geben und Fehler mit immer stärkeren Schocks bestrafen. In Wirklichkeit gab es keine Schocks, sondern der Schüler schaltete ein Tonband an, das seine Antworten wiedergab – eine Tonbandaufzeichnung, damit alle Probanden dieselben Antworten zu hören bekam.

Auf diesem Tonband machte der Schüler immer wieder Fehler und sollte dann auf Anweisung des Versuchsleiters bestraft werden. Der Schüler litt merklich Schmerzen, trat irgendwann gar gegen die Wand. Bei den extrem hohen Schocks war gar keine Reaktion mehr vom Nebenraum zu verhören. Daraufhin ordnete der Versuchsleiter an, Nichtantworten als falsch einzuordnen und ebenfalls zu bestrafen.

Wenn ein Proband die Folter nicht mehr weiter ausführen wollten, so wies ihn der Versuchsleiter mit vorbereiteten Phrasen an, weiterzumachen – Sätze wie: „Bitte machen Sie weiter“, oder: „Das Experiment erfordert, dass Sie fortfahren.“.

Das eigentliche Experiment drehte sich natürlich nicht um Erinnerungen und Lernen, sondern sollte bestimmen, wie viele Leute bis zum Ende gingen, wie viele auf Befehl des Versuchsleiters bis zum Schalter XXX gehen würden.

Im Vorfeld hatte Stanley Milgram die Psychologiestudenten seiner Fakultät befragt, wie viele Probanden derart gehorsam wären. Die absolut pessimistischste Antwort, die er erhielt, war 3 %. Das tatsächliche Ergebnis waren 24 von 40, ganze 60 %.

Die Versuchspersonen schwitzten, zitterten, kaute ihre Nägel, ballte ihre Fäuste; aber 60 % von ihnen betätigten die Hebel, von denen sie glauben mussten, sie würden damit einem Umschuldigen schmerzhafte, potentiell tödliche Elektroschocks geben. Und das alles, weil sie einen Befehl erhalten hatten. Einen Befehl vom Versuchsleiter, der (das sollte man noch einmal betonen) keinerlei staatliche Gewalt in Form eines Polizeiapparats hinter sich hatte.

Dieses Experiment wurde seitdem in vielen Abwandlungen in unterschiedlichen Kulturen durchgeführt. Die Ergebnisse sind nicht immer so extrem wie Milgrams, aber in vergleichbarer Größenordnung. Offenbar sind Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Prägung sehr viel obrigkeitshöriger, als wir meistens wahrhaben wollen.

Allerdings nur (auch das ein Ergebnis), wenn ein höheres Ziel vorgeschoben wird. Befielt man es ihnen direkt, funktioniert das nicht gut. Gibt man ein größeres Wohl an, welches man verfolgt, so greift der Gehorsam. Dieses Ziel muss in keiner Form angemessen sein – Ergebnisse über Lernmethoden rechtfertigen wohl in keinem ethischen System, Menschenleben bewusst zu gefährden. Aber es muss als Rechtfertigung existieren.

Tatsächlich wissen wir von nur einem Mechanismus, der den Gehorsam in einem Milgram-Experiment massiv reduziert: Wenn die Probanden von diesem Experiment und seinen Ergebnissen gehört haben. Ob das nur gegen diesen speziellen Versuchsaufbau immunisiert oder man mit der Legende um Milgrams berühmtes Experiment allgemein beibringen kann, Befehle kritisch zu hinterfragen, ist schwierig zu beurteilen. Vielleicht ist die korrekte Antwort auch, dass man solche Entscheidungen überhaupt nicht dem Rückgrat von Individuen anvertrauen kann, sondern in rechtsstaatlichen Institutionen verorten muss.

In jedem Falle gehört das Milgram-Experiment zu jeder Debatte über autoritäre Regime.

Stanley Milgrams weiteres Leben

So wichtig und weittragend sein Experiment zum Befehlsgehorsam war, Stanley Milgrams Leben ging danach natürlich weiter. 1967 konnte er als vollwertiger Professor an die Universität von New York wechseln und damit in seine Heimat zurückkehren.

Dort führte er seine Forschung fort und konnte eine Reihe von wichtigen Ergebnissen erzielen. So war er der erste, der die Hypothese prüfte, praktisch jeder auf der Welt kenne praktisch jeden über sechs Ecken. (Davon werden Sie hier keine genaue Beschreibung finden, weil sich Methodik und Stichprobengröße als unzureichend herausstellten für eine valide Aussage. Als guter Experimentator gestand Milgram das auch offen ein, was die Medien nicht daran hindert, ihn gelegentlich noch dazu zu zitieren.) Er entwickelte auch Methoden zu messen, wie hilfsbereit wir Fremden gegenüber sind. Usw.

In Summe war es stets die experimentelle Untersuchung des menschlichen Verhaltens, das im Zentrum von Milgrams Forschung stand. Mit seinen Worten:

„Wenn Sie glauben, es wäre einfach soziale Zwänge zu sprengen, steigen Sie in einen Bus und singen Sie laut. Aus vollem Halse, kein Summen. Viele Leute meinen, es wäre einfach, das zu tun, aber nicht einer unter hundert wird es tatsächlich schaffen.

Es geht nicht darum, sich das Singen vorzustellen, sondern es wirklich zu versuchen. Nur im Tun erkennt man vollständig, welche Kräfte das Sozialverhalten beherrschen. Deshalb bin ich Experimentator.“

(Im Original: „If you think it is easy to violate social constraints, get onto a bus and sing out loud. Full-throated song now, no humming. Many people will say it’s easy to carry out this act, but not one in a hundred will be able to do it.

The point is not to think about singing, but to try to do it. Only in action can you fully realize the forces operative in social behavior. That is why I am an experimentalist.“)

Egal wie plausibel oder unplausibel es uns vorkommen mag, unser Bewusstsein hat kaum eine Ahnung, wie unser Verhalten wirklich funktioniert. Denken Sie daran, wie massiv sich die pessimistischste Vorhersage zum Milgram-Experiment vom Resultat unterschied! Neben seinen Durchbrüchen zum Befehlsgehorsam, ist dies vermutlich Milgrams zweite große Lehre: Es bedarf der empirischen Forschung, um den menschlichen Geist zu verstehen. Der Forscher hinter diesen Erkenntnissen wurde leider nur 51 Jahre alt. Stanley Milgram verstarb am 20. Dezember 1984 in New York an seinem fünften Herzinfarkt.

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