Name: Johanna Louise Spyri (geb. Heusser)
Lebensdaten: 12. Juni 1827 in Hirzel (Kanton Zürich) bis 7. Juli 1901 in Zürich
In aller Kürze: Johanna Spyri verfasste die Heidi-Romane, auf denen die bekannte Zeichentrickserie basiert. An ihrem Erfolg erkennen wir, auf welche Weise wir die „gute alte Zeit“ romantisieren.
Im Detail: Die spätere Johanna Spyri wurde am 12. Juni 1827 unter dem Namen Johanna Louise Heusser in Hirzel geboren. Das ist ein kleiner Ort in der Nähe von Zürich, aus dem eine überraschend große Zahl wichtiger Leute stammt (vor allem dafür, dass er nie mehr als 2500 Einwohner hatte). Diese Lage an der Kante zwischen Großstadt und Dorf sollte für Johannas spätere Schriftstellerei sehr prägend sein. Aber dazu später mehr.
Das Mädchen war das vierte von sechs Kindern. Ihre Familie gehörte dem Bürgertum an. Ihr Vater Johann Jakob Heusser war Arzt, ihre Mutter Meta Heusser-Schweizer war Dichterin und ihr Großvater mütterlicherseits war der Pfarrer Diethelm Schweizer-Gessner. (Die Schweiz war auch damals schon ein Flickenteppich aus Protestanten und Katholiken – denken Sie an Johannes Calvin in Genf.)
Auch wenn die junge Heusser vor allem in ihrem Heimatdorf Hirzel aufwuchs, legte ihre Familie großen Wert auf ihre Ausbildung, vor allem die sprachliche. So zog sie 1842 (mit 15 Jahren) zu ihrer Tante nach Zürich, um die Schule zu besuchen. Zwei Jahre später zog sie dann weiter, um Französisch zu lernen, und wohnte von 1844 bis 1846 in Yverdon. (Das liegt im französischen Kanton Waadt im Westen der Eidgenossenschaft. In der Schweiz muss man nicht weit ziehen, um sich mit einer Fremdsprache zu umgeben.)
Bei dieser Förderung ihrer Tochter könnte man meinen, die Heussers wären sehr emanzipiert gewesen. Das sollte man zumindest nicht überschätzen. Nach ihrer Schulzeit zog Johanna wieder in ihr Geburtshaus und half im Haushalt und bei der Erziehung ihrer jüngeren Geschwister. Als alleinstehende Frau war das ihre Rolle. Erst nach ihrer Hochzeit zog sie mit ihrem neuen Ehemann nach Zürich. Johanna heiratete nämlich 1852, im Alter von 25 Jahren, den Juristen und Redakteur Bernhard Spyri, womit sie auch den Nachnamen annahm, unter welchem sie als Schriftstellerin bekannt werden sollte.
Die Ehe war jedoch keine glückliche. Nachdem Johanna 1855 das erste und einzige Kind der Spyris zur Welt gebracht hatte (den Sohn Bernhard Diethelm Spyri), fiel sie in eine tiefe Depression, deren jahrelanges Anhalten auch auf die wenig liebevolle Weise ihres Ehemanns zurückgeführt wird.
Die Familie zog innerhalb Zürichs mehrfach um, doch der wichtigste Impuls für Johanna Spyris weiteres Schaffen kam aus Norddeutschland: Die junge Frau hatte Verwandtschaft in Bremen, einen Theologen namens Johann Wichelhausen. Über diesen lernte Spyri bei einem Besuch in der Hansestadt einen anderen Theologen kennen: den Pastor Cornelius Rudolph Vietor. Mit diesem sollte sie eine jahrelange Freundschaft verbinden, er sollte sie gar öfter in Zürich besuchen. Vor allem aber regte er sie dazu an, als Autorin zu arbeiten und ihre Werke zu veröffentlichen.
Bereits ihre erste Erzählung war ein großer Erfolg. Ein Blatt auf Vronys Grab von 1871 schildert das Leiden einer Frau, die mit einem prügelnden Alkoholiker verbunden ist – in einer Zeit, in der sie als Frau aus dieser Ehe kaum entkommen kann. (Wir hatte den Zusammenhang zwischen Alkoholismus der Ehemänner und dem Leiden der unterdrückten Frauen schon bei Susanna M. Salter.)
Auf diesen Erfolg folgten ein paar weniger erfolgreiche Werke. Erst 1879 erschien dann das erste der beiden Bücher, mit dem sie in den Rang der Bestsellerautoren aufsteigen sollte: Heidis Lehr- und Wanderjahre. Zwei Jahre später folgte dann Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, welches an den Erfolg des ersten Bandes anschließen konnte.
Beide Bücher wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. In Deutschland ist die Anime-Serie aus dem Jahre 1974 am bekanntesten, die in Auftrag des ZDF in Japan entwickelt worden war. (Weil die Produktionskosten in Japan sehr niedrig waren, war das damals eine geläufige Lösung. So wurden auch Pinocchio, Wickie und die starken Männer, Biene Maja und Sindbad mit deutscher Finanzierung in Japan gestaltet, dort auf Japanisch ausgestrahlt und später in deutscher Übersetzung in Deutschland. Deshalb erfolgte die deutsche Ausstrahlung von Heidi auch erst 1977/78.)
Dieser Durchbruch wirft aber die Frage auf: Was machte diese Romane so erfolgreich?
Wir neigen dazu, die „gute alte Zeit“ und „das einfache Leben“ zu romantisieren. In Geschichten passiert dies besonders stark, wenn die Handlung nicht etwa bloß in dieser einfachen Welt spielt. Dann müsste ein Roman wie Heidi im 17. Jahrhundert spielen. Tatsächlich funktioniert es am besten durch den Kontrast, wenn die große Welt da draußen schon der neuen Zeit entspricht, aber die Handlung an einem der letzten Rückzugsorte der alten Zeit stattfindet.
Denken Sie an Astrid Lindgrens Wir Kinder aus Bullerbü (Schwedisch: Alla vi barn i Bullerbyn), wo das einfache Leben auf dem Dorf noch existiert, aber draußen nicht mehr. (Zumindest scheinbar einfach, wenn Sie als Erwachsener die Bücher lesen, fällt Ihnen erst auf, wie hart das Leben in Bullerbü ist.) In dem Dorf verwendet man noch Pferdekutschen, während draußen bereits die ersten Automobile herumfahren.
Dieses Muster findet sich immer wieder: Die Harry-Potter-Romane schildert eine kleine Subkultur, die nicht bloß magisch ist, sondern noch mit Federhalter schreibt, während die Welt da draußen gerade von den Mikrochips erobert wird. In Anne auf Green Gables (Englisch: Anne of Green Gables) kommt die Hauptfigur aus der Stadt in einer Zeit der Urbanisierung in eines der letzten klassischen Dörfer, das sich der Urbanisierung widersetzen kann, weil es auf einer abgeschiedenen Insel liegt. Wir lesen nicht einfach von der guten alten Zeit, wir feiern das letzte Hurra der alten Kultur.
Und hier kommen wir zu Spyris Heidi-Büchern zurück: Die Schweiz industrialisierte sich später als die umliegenden Regionen und war dementsprechend arm. Erst ab ca. 1850 ging die Industrialisierung des Landes so richtig los. Und so kann Heidi aus der neuen Welt auf die traditionelle Alm. Wenn sie dieses Dorfleben verlässt, so fährt sie dort draußen mit der Eisenbahn (dem Symbol der Industrialisierung), aber dort oben ist die Welt „noch in Ordnung“. Einer der zentralen Handlungspunkte ist die Reparatur eines Hauses in Handarbeit, was in der großen Stadt damals schon mit industriellen Mitteln und Baustoffen passierte. Dieser Kontrast aus Spyris eigenem Leben erzeugt die Faszination der Bücher.
Die Einkünfte aus dem Erfolg ihrer Heidi-Romane machte Johanna Spyri finanziell unabhängig. Das sollte ihr sehr zu Nutze kommen, als 1885 ihr Ehemann verstarb. So konnte Spyri bis zu ihrem Tode in Zürich leben und viel verreisen, ohne sich um ihre Finanzen Sorgen machen zu müssen. Im Jahre 1901 erkrankte Spyri an Krebs. Passend für ihren Lebensweg ließ sie sich von Marie Heim-Vögtlin behandeln, die 1872 als erste Frau in der Schweiz einen Abschluss in Medizin erlangt hatte. Die Fachfrau konnte ihr jedoch leider nicht mehr helfen. Johanna Louise Spyri verstarb am 7. Juli 1901 im Alter von 74 Jahren in ihrer Wahlheimat Zürich.
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