Snorri Sturluson, Überlieferer der nordischen Mythologie

Name: Snorri Sturluson

Lebensdaten: irgendwann 1179 in Hvammur í Dölum auf Island bis 22. September 1241 in Reykholt, ebenfalls auf Island

In aller Kürze: Ein wichtiger Dichter, Rechtsanwalt und unvernünftiger Lebemann verfasste eines der zentralen Werke, das uns die nordische Mythologie überliefert: Snorri Sturluson schrieb die jüngere Edda.

Im Detail: Sie alle kennen Figuren aus der nordischen Mythologie, zum Beispiel Odin, Thor oder Loki. Nicht nur werden diese in verschiedenen Filmen und Serien (allen voran Marvel) immer wieder verwendet, auch in der aktuellen deutschen Kultur findet man ihr Erbe noch – zum Beispiel die Namen einiger Wochentage. So ist der Freitag eigentlich Friggs Tag, nach Frigg, die Gattin Odins. Nicht etwa nach Freya, die vermutlich eine andere Göttin war. Man beachte das Wort „vermutlich“, denn die Quellenlage zu dieser Mythologie ist ziemlich dürftig. Die nordischen Kulturen hatten zwar eine Schrift, verwendeten sie jedoch selten für längere Texte. Daher haben nur sehr wenige Informationen bis in unsere Zeit überstanden. Eine unserer besten Quellen entstand ganz am Rande des nordischen Kulturraums, niedergeschrieben auf Island von Snorri Sturluson.

Snorri Sturluson wurde in Hvammur í Dölum auf Island geboren als Sohn von Sturla Þórðarson, dem Älteren, und dessen zweiter Ehefrau Guðný Böðvarsdóttir – im Jahre 1179, genauer wissen wir es nicht. (Ich werde ihn im weiteren Verlauf dieses Textes bei seinem Vornamen Snorri nennen, weil Sturluson kein Nachname im heutigen Sinne war, sondern anzeigte, dass sein Vater Sturla hieß.) Er stammte aus einem reichen und mächtigen Klan. Überhaupt wird ein anhaltendes Motiv seines Lebens sein, wie seine Herkunft ihn von den Folgen seine unvernünftigen Taten abschirmte.

Snorris Geschwister sind etwas unklar. Er hatte wohl mindestens zwei Brüder und zwei Schwestern. Weitere Quellen sprechen von bis zu neun Halbgeschwistern. Außerdem wäre es bei dem gesellschaftlichen Stand seines Vaters in der damaligen Kultur wenig überraschend, hätte dieser noch jede Menge Bastarde gezeugt.

Snorris Elternhaus sollte ihn aber nicht lange prägen – schon als Kleinkind wurde er zum Ziehsohn von Jón Loftsson, einem ferneren Mitglied der norwegischen Königsfamilie. Er zog dafür nach Oddi, welches ebenfalls auf Island liegt und nicht etwa in Norwegen. Zu seiner Geburtsfamilie sollte er nie zurückkehren.

In dieser neuen Familie hatte Snorri rosige Aussichten. Ihm wurden eine umfassende Erziehung und Bildung ermöglicht. Vor allem sind Kinder aus solch gutbetuchter Herkunft von Schicksalsschlägen viel besser abgeschirmt. Sein Vater starb kurz nach Snorris Umzug und seine Mutter verprasste sein Erbe. Als sein Ziehvater ebenfalls das Zeitliche segnete, war der junge Mann ca. 18 Jahre alt. Um ihm auszuhelfen, wurde eine Ehe mit einer Frau namens Herdís für ihn arrangiert. Mit seiner Hochzeit 1199 wurde er Erbe eines Anwesens und übernahm auch eine Rolle als feudaler Herrscher in der Nähe von Borg.

Obwohl ihm diese Ehe sehr viel Wohlstand ermöglichte, sollte Snorri sie in den Sand setzen. Er war mit seiner Frau vier Jahre lang zusammen, sie hatten mindestens zwei Kinder. Aber Snorri hielt offenbar weniger von Monogamie als seine Ehefrau. Diese verließ ihn wegen seiner vielen Liebschaften.

Trotzdem war Snorri weiterhin zu sehr Teil der Oberschicht, um große Konsequenzen fürchten zu müssen. Er zog einfach ohne Herdís nach Reykholt und konnte dort ein Anwesen übernehmen. Hier sehen wir zum ersten Mal, dass Snorri nicht nur glücklich geboren wurde, sondern tatsächlich ein kluger Mann war. Er konnte das Anwesen zu einem erfolgreichen und angesehenen Badehaus ausbauen.

Wie für Snorri passend, nutzte er seinen Erfolg im Geschäft für Erfolg bei den Frauen. Er zeugte mindestens fünf weitere Kinder mit drei unterschiedlichen Frauen.

Besagter Erfolg beschränkte sich nicht bloß auf das Badehaus. Snorri war auch angesehen Anwalt. Für diesen Artikel am wichtigsten ist jedoch sein wachsender Ruhm als Poet. Aus einem der beiden Gründe wurde er 1218 an den norwegischen Königshof geladen. Der junge König Håkon IV. und dessen Mitregent Skúli waren von Snorris Poesie wohl völlig begeistert. Während er Gedichte über die beiden schrieb (und damit klug an ihr Ego appellierte), revanchierten die Herrscher sich, indem sie ihren Untertanen mit Geschenken überhäuften. Und wir reden hier nicht von Kleinigkeiten – unter anderem übereigneten sie ihm das komplette Segelschiff, mit welchem er nach Norwegen gebracht worden war.

Zum Schluss wurde Snorri gar zum Lehnsmann des norwegischen Throns. Dies war allerdings nicht bloß eine Belohnung für schmeichelnde Dichtkunst. Norwegens Einfluss in Island war damals merklich, aber die Insel war nicht offiziell Teil des Königreichs. Snorri sollte das ändern.

1220 kehrte er nach Island zurück und konnte seinen Ruhm als Poet nutzen, um bis 1222 in das Althing, das isländische Parlament der Adeligen, gewählt die werden. Dort sollte er bis 1232 bleiben und sich stets für die Vereinigung mit Norwegen aussprechen. Er arbeitete auch an seinem Wohlstand, indem er 1224 eine reiche Witwe heiratete. Er versuchte dann, durch weitere politische Hochzeiten seines Klans seine politische Macht zu mehren und den Anschluss an Norwegen durchzubringen. All dieser Bemühungen sollten sich als wenig erfolgreich herausstellen.

Wirklich bedeutend ist diese Phase von Snorris Leben vor allem für seine Nachwelt. Denn in dieser Zeit verfasste der Dichter eine Reihe von Lehrschriften, die wir heute als Snorra-Edda (oder Prosa-Edda oder jüngere Edda) zusammenfassen.

Wie wir es auch heute tun, verwendeten damals viele Schriftsteller die Figuren der heidnischen Religionen in ihren Werken. Im nordischen Kulturkreis waren das dann eben nicht Zeus oder Hestia, sondern Odin, Thor, Loki usw.

Nun war Island zu diesem Zeitpunkt schon seit ca. 200 Jahren christianisiert und viele der aufstrebenden Dichter wussten gar nicht mehr, was eigentlich Inhalt der alten Mythen gewesen war. Es lag ihnen eine Schrift von 31 Gedichten aus dieser Zeit vor, die sogenannte Lieder-Edda (auch ältere Edda), aber diese Texte lassen die alten nordischen Götter, Riesen usw. als Figuren auftreten. Sie erklären sie nicht im Detail.

Deshalb setzte sich Snorri Sturluson hin und verfasste eben jene Lehrtexte, die erklären sollten, was es mit diesen Wesenheiten eigentlich auf sich hatte. Die Hintergründe, die der isländische Poet hier schilderte, bilden bis heute das Rückgrat unseres Verständnisses der nordischen Mythologie. Das allermeiste, was Sie womöglich über Götter wie Thor oder Loki wissen, stammt aus diesen Abhandlungen. Sie ermöglichten die Geschichtswissenschaft ebenso wie die linguistische Analyse, und die Snorra-Edda inspirierte auch eine Reihe von Autoren. Der berühmteste war wohl J. R. R. Tolkien.

So schön das alles sein mag, ist die Snorra-Edda als Quelle durchaus nicht unproblematisch. Sie wurde zwar von einem sehr gebildeten Schreiber verfasst, aber es sind trotzdem Informationen aus dritter Hand, verfasst zu einer Zeit, als der heidnische Glaube bereits verdrängt worden waren. Und zwar zu einer Zeit, in der viele moderne Methoden der Geschichtsforschung noch gar nicht existierten, sodass Snorri sie nicht anwenden konnte, um seine Quellen zu prüfen.

Des Weiteren wohnte der Verfasser auf Island. Die Insel war auch damals schon Teil der Peripherie von Europa. Die isländische Kultur lag immer am Rande des nordischen Kulturraums.

In Summe bedeutet dies: Stellen Sie sich vor, Sie lebten im Jahre 3000 und sollten die deutsche Kultur im Jahre 2000 rekonstruieren. Sie hätten nur zwei solide Quellen und die einzige, die Klartext spräche, wäre im Jahre 2200 auf Pellworm verfasst worden. Das mag Ihnen eine Vorstellung davon geben, wie schwierig die Erforschung der nordischen Kultur sein kann und warum es dafür Experten bedarf. (Wenn Sie Englisch sprechen, empfehle ich übrigens den YouTube-Kanal von Dr. Jackson Crawford, einem sehr eloquenten Fachmann für dieses Thema.)

Das ganze Problem wird nicht dadurch besser, dass der Stoff in der Neuzeit immer wieder verfälscht aufgegriffen wird. Oft aus politischen Gründen – bspw. Deutschnationale und Nazis bauten und bauen daraus eine romantisch mystifizierte Geschichte über den germanischen Ursprung. (Wenn Sie sich jetzt fragen, warum man eine Quelle vom anderen Ende des Kulturraums einer Schwesterkultur als Grundlage nimmt, erstrecht eine heidnische, wo die allermeisten Nazis doch Christen waren, dann überschätzen Sie die Rationalität von Nationalsozialisten um mindestens eine Größenordnung.)

Andere Verfälschungen sind dagegen harmloser. So wird in keiner der beiden Eddas Loki als Bruder Thors dargestellt – weder leiblich noch adoptiert. Diesen Unfug haben sich die Schreiber von Marvel aus der Nase gezogen.

Das literarische Erbe Snorris war also reichlich chaotisch. Passend dazu war auch sein weiteres Leben wirklich chaotisch. Seine Versuche, Island zum Teil Norwegens zu machen, blieben ohne Erfolg trotz der Hilfe aus der Ferne von König Håkon IV. Er versuchte es am Ende gar mit militärischen Mitteln, die ebenfalls in einer Niederlage endeten.

Snorri floh daher 1237 nach Norwegen, wo es aber auch nicht viel besser lief. Die Herrschaft des Königs war durch einen Bürgerkrieg erschüttert, in welchem Skúli versuchte, den Thron an sich zu reißen. (Skúli war jener Mitregent, den Snorri mit Gedichten ehrte, als er noch an der Seite des Königs stand.)

Als Snorri in Norwegen ankam, war der Bürgerkrieg so richtig ausgebrochen. Snorri musste eine Seite wählen und entschied sich gegen den König. Damit hatte er leider die Seite des Verlierers gewählt, der Großteil von Skúlis Armee wurde rasch geschlagen. Snorri wollte dann doch lieber nach Island zurück, aber König Håkon IV. traute ihm mehr nicht über den Weg – nachvollziehbarerweise. Also verbot der Regent ihm die Ausreise.

Snorri Sturluson setzte sich über diese Weisung hinweg und kehrte 1239 nach Island zurück. Damit kam er durch, weil Skúli zwar am verlieren war, aber sich noch nicht geschlagen gab und sich kurzerhand zum neuen König krönen ließ. Daher war Håkon IV. gerade ein wenig abgelenkt. Nachdem Skúli 1240 in einer Schlacht gefallen war, kam der König endlich dazu, Snorri zwei Boten nachzuschicken, die einen seiner Lehnsmänner anwiesen, Snorri zu ermorden.

Mit einer Truppe von 70 Mann griff dieser Snorris Haus in Reykholt an und ermordete den Poeten am 22. September 1241. Der reich geborene Snorri, der durch seine Herkunft immer wieder von den Konsequenzen seiner Taten abgeschirmt worden war, wurde also erst im Alter von ca. 62 Jahren von besagten Konsequenzen eingeholt.

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