Name: Sergei Sergejewitsch Prokofjew (ukrainisch: Сергій Сергійович Прокоф’єв, russisch: Сергей Сергеевич Прокофьев)
Lebensdaten: 23. April 1891 in Sonzowka (heute: Sonziwka) bis 5. März 1953 in Moskau
In aller Kürze: Der Komponist von Peter und Wolf führte ein Leben voller Chaos und Herausforderungen, ständig fast erfolgreich und fast berühmt – immer wieder von Schicksalsschlägen getroffen. Zum Schluss war Prokofjew einer der vielen Leidtragenden des Stalinismus.
Im Detail: Vor ein paar Monaten landete ich auf einer Zugreise auf dem Platz gegenüber einer Polin. Wir unterhielten uns ein wenig auf Englisch. (Mein Polnisch ist ziemlich schlecht und Esperanto leider wenig verbreitet.) Als ich sie fragte, warum sie ihre Fahrt unternahm, erzählte sie, sie sie in einem Orchester und sei Teil einer Aufführung gewesen. Ich fragte sie, welches Instrument sie spielte und sie antwortete, sie spiele die Oboe.
Nun ist die Oboe ein recht unbekannter Holzbläser und ihr Englisch war nicht sonderlich gut. Deshalb war die Dame sich nicht sicher, ob ich korrekt verstanden hätte, welches Instrument sie spielt. Zum Glück hatte ich eine einfache Methode zu bestätigen, dass ich begriffen hatte. Ich sagte einfach: „Die Ente aus Peter und der Wolf.“ Problem gelöst. Derart bekannt ist dieses Lehrstück von Sergei Sergejewitsch Prokofjew.
Prokofjew kam am 23. April 1891 in Sonzowka (damals russich: Сонцовка, heute ukrainisch: Сонцівка, transliteriert: Sonziwka) zur Welt. Das Dorf lag im Russischen Reich, gehört heute jedoch zur Ukraine im Oblast Donezk, welches Russland aktuell gewaltsam annektieren möchte. (Um Sonziwka wird es ihnen dabei jedoch nicht gehen, denn der Ort ist winzig. Es hat heute unter 800 Einwohner.)
Sergei Sergejewitsch Prokofjew war der Sohn eines Gutverwalters. Wie sein zweiter Name aussagt, hieß auch der Vater Sergei. Im damals primär landwirtschaftlich geprägten Russland war ein Gutsverwalter eine angesehene Position. Daher ist es wenig überraschend, dass die Prokofjews wohlhabend waren und aus angesehenem Hause stammten: Vater Sergei kam aus einer moskauer Händlerfamilie und war eigens für seine Tätigkeit als Gutsverwalter ausgebildet worden – in heutigen Begriffen entsprach seine Ausbildung in etwa der des Agrarökonomen. Mutter Maria kam aus St. Petersburg, der damaligen Reichshauptstadt. Ihre Familie waren ursprünglich Leibeigene, deren Kinder nach ihrer Befreiung aus diesem Stand – die Leibeigenschaft war Russland erst 1861 abgeschafft worden, Jahrzehnte später als in Westeuropa – von ihren ehemaligen Herren humanistisch ausgebildet worden waren.
Letzterer Umstand sollte für den späteren Komponisten Prokofjew essenziell sein. Denn Maria Prokofjewa liebte die Musik und das Musizieren, vor allem das Klavier hatte es ihr angetan. Auch ihren Sohn konnte mit ihrer Begeisterung anstecken: Schon im zarten Alter von vier Jahren brachte sie ihm dieses Instrument bei, und der junge Sergei spielte es mit Begeisterung. Bereits ein Jahr später komponierte er seine ersten Werke. (Ich habe mir sagen lassen, dass sich deren Qualität doch eher in Grenzen hält, aber für einen Fünfjährigen trotzdem ein Zeichen hoher Begabung.) Mit neun schrieb er seine erste Oper.
Auch in anderen Gebieten konnte Prokofjew zeigen, wie schlichtweg genial er war. Mit sieben lernte er Schach und konnte sich auch für dieses Spiel begeistern. Als Erwachsener sollte er es auf Weltniveau beherrschen.
Solcher Verstand spricht sich herum, erstrecht wenn das Elternhaus genügend Mittel hat, um einen zu fördern, und die eigene Mutter einen aktiv unterstützt. 1902 traf sie den Direkter des Konservatoriums von Moskau. Dieser konnte einrichten, dass der Komponist und Pianist Reinhold Glière für den Sommer nach Sonzowka kam, um den jungen Sergei Prokofjew zu unterrichten. Der Schüler war gelehrig und seine Eltern zahlten gut, also kam der Lehrer auch im nächsten Jahr mit Freuden.
Allgemein war der Unterricht durch Glière sehr prägend für Prokofjew. Zunächst einmal konnte er sein musikalisches Talent entfalten. Zudem war Glière offenbar sehr begabt als Didakt – konnte seinen Schüler für das Fach begeistern und es sehr anschaulich vermitteln. Und Sergei Prokofjew lernte von ihm damit auch, wie wichtig das richtige Unterrichten der Musik war und wie viel Freude es bereiten konnte. Alles Lehren, die er später in Peter und der Wolf umsetzen sollte. Doch bis dahin sollten noch viele Jahre ins Land gehen.
Trotz Prokofjews großer Fortschritte waren seine Eltern unsicher, ob sie ihn so früh in die musikalische Laufbahn schicken sollten. Vielleicht wäre es besser, wenn der Junge erst eine solide Schulbildung erhielte?
In jedem Falle war Sonzowka einfach zu abgelegen, um einen Schüler von Sergeis Talent und Intelligenz vernünftig zu fördern. Also reiste seine Mutter mit ihm 1904 in ihre Heimatstadt St. Petersburg, um dort nach einer Schule für ihn zu suchen – da war der Sohn gerade 13.
Auf dieser Reise trafen sie auch einen Komponisten und Professor am Konservatorium von St. Petersburg. Prokofjew konnte zu diesem Zeitpunkt nicht nur virtuos Klavier spielen, er hatte auch schon viele Stücke komponiert – unter anderem drei Opern. Entsprechend beeindruckt war der Professor und konnte die Mutter überreden, ihren Sohn an das Konservatorium zu schicken.
Als sprichwörtliches Wunderkind viel jünger als seine Kommilitonen fiel Prokofjew auf wie ein bunter Hund. In der St. Petersburger Musikszene wurde er bald ziemlich berühmt. Passend zu seinem Alter war er als musikalischer Rebell bekannt, der wilde neue Ideen in die Musik brachte. Dieser Ruf sollte ihm noch zugutekommen, weil der junge Mann nicht gerade fleißig war und eher mittelmäßige Noten bekam.
Trotzdem konnte sein Ruhm ihn finanziell unabhängig machen. Als sein Vater 1910 verstarb und er kein Geld mehr von seiner Familie bekam, konnte Prokofjew sich mit seiner Musik über Wasser halten. Er wurde nicht gerade reich, zumal seine Kompositionen teilweise einfach zu hypermodern waren, um den Zuhörern zu gefallen, aber er konnte überleben.
Die nächsten Jahre richtete Prokofjew seine Karriere neu aus, um doch noch etwas aus seinem Talent zu machen. Er bereiste London und Paris, und konzentrierte sich auf die Komposition von Balletten.
Doch seinen Europareisen kamen zu einem plötzlichen Ende, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Damit saß der Komponist vorerst in Russland fest. Die Folgen des Krieges trafen Sergei Prokofjew zu dessen Glück nur sehr indirekt. Erst mit dem Ausbruch der Revolution wurde die Lage unbequem für ihn. Zuerst verließ er St. Peterburg und zog zu seiner Mutter. Über den Sommer 1918 emigrierte er dann in die Vereinigten Staaten.
Dort sollte er allerdings wenig Glück haben. Als seine finanziellen Mittel langsam zu Neige gingen, musste der Komponist nach Europa zurückkehren. Zunächst ging es 1920 nach Paris. Dort jedoch zerstritt sich derart heftig mit einem anderen einflussreichen Komponisten, dass er in 1922 die bairischen Alpen weiterziehen musste – in das kleine Dort Ettal nördlich von Garmisch-Partenkirchen.
In Deutschland heiratete Prokofjew die spanische Sängerin Carolina Codina. Im nächsten Jahr nahm er seine neue Ehefrau mit sich, als er nach Paris zurückkehrte.
Sein Erfolg in der französischen Hauptstadt hielt sich eher in Grenzen, aber es gab zwei Entwicklungen, die für Prokofjews weiteres Leben sehr wichtig sein sollten: Zunächst wurde er Anhänger einer fundamentalistischen Form des Christentums, welche unter anderem Gebete statt Medizin vorsah. Im harten Kontrast dazu, baute er Verbindungen zur Sowjetunion auf.
In seiner Abwesenheit waren seine Stücke in seiner Heimat immer beliebter geworden. In den vorherigen Jahren war Prokofjew mehrfach in die UdSSR eingeladen worden. Er hatte sich stets dagegen entschieden und wollte lieber im Westen bleiben. Von Problemen geplagt, entschied er sich dann 1927 doch zu seinem zweitmonatigen Aufenthalt in der Sowjetunion – vor allem in Moskau und Leningrad, wie die Heimatstadt seiner Mutter nun hieß. (Im Jahre 1927 geschah auch etwas, was später noch wichtig werden wird: Josef Stalin konnte sich als de facto Alleinherrscher der UdSSR etablieren.)
In den nächsten Jahren blieb Sergei Prokofjew der Stadt Paris verhaftet, tourte aber durch Europa, besuchte sogar die Vereinigten Staaten und gelegentlich die Sowjetunion. Vermutlich hätte er diese Lebensweise weitergeführt, aber die Weltwirtschaftskrise kam ihm dazwischen. Durch den großen Börsencrash war überall das Geld knapp. Gerade viele Mitglieder der Oberschicht, die traditionell die zentrale Stütze der Kunst bilden, hatten große Mengen ihres Kapitals verloren. Insofern fand sich der weiterhin eher mäßig erfolgreiche Komponist wieder in finanziellen Sorgen.
Also beschloss er, schließlich doch das Angebot der UdSSR anzunehmen und nach Moskau umzusiedeln. Bei all den Macken sowjetischer Planwirtschaft – ohne Aktienmärkte im kapitalistischen Sinnen war sie sehr resilient gegenüber Aktiencrashs.
Trotzdem war Prokofjew merklich nicht gerade enthusiastisch über diesen Umzug. Von 1932 bis 1936 hatte er zwei Wohnsitze: Moskau und Paris. Erst 1936 zog er dauerhaft in die sowjetische Hauptstadt um.
Im selben Jahre veröffentlichte er seine heute bekannteste Komposition: Peter und der Wolf. Darin führte er sein musikalisches Genie und seine Erfahrungen aus seiner Jugend, wie man Musik gut unterrichtet, zusammen mit dem sowjetisch gewollten Anspruch der Volksbildung. Das Ergebnis war ein Lehrstück, das nicht nur wunderschöne Motive und Melodien enthält, sondern Kindern mit seiner Erzählung verschiedene Instrumente nahebringt. Für diesen Zweck sind die verschiedenen Rollen mit unterschiedlichen Instrumenten besetzt. Wie im Beispiel oben ist die Ente die Oboe. (Falls Sie neugierig sind: Peter sind die Streicher und der Wolf die Hörner.)
Das Stück war und ist ein riesiger Erfolg. Bis heute wird es immer wieder aufgeführt. Gelegentlich muss man die aus heutiger Sicht problematische Darstellung des Wolfs etwas anpassen, aber ansonsten ist die Musik wirklich zeitlos. (Ich hörte mit meiner Tochter einmal eine Aufführung, in der die Jäger nicht Angst vor dem Wolf selbst hatten, sondern vor dem Papierkram, den sie ausfüllen müssten, sollten sie aus Versehen ein geschütztes Tier schießen.)
Für diesen Erfolg wurde und wird Prokofjew in Russland gefeiert. Wenn Sie jetzt denken, dass hätte dem Komponisten zu einem sicheren, geruhsamen Leben verholfen, kennen Sie den stalinistischen Terror nicht. Prokofjew wurde zu seinem Glück nie zum Opfer der Säuberungen, aber seine Stellung vor dem Staatsapparat der UdSSR schwankten bis zu seinem Lebensende zwischen großer Belobigung und harten Repressalien. In solchen Regimen kann der Wechsel von Lobpreisung zur Verfolgung durch die spontane Willkür eines hohen Tiers geschehen.
So schrieb Prokofjew eine Kantate zur Feier des 20. Jubiläums der Oktoberrevolution. Doch selbst dieses offene Feiern des sowjetischen Staats stieß auf Unmut, weil die Musik zu komplex sei. Sie sollte erst Jahre später uraufgeführt werden. Also musste er die nächsten Jahre regimetreuer komponieren.
Die Gelegenheit sollte sich schon 1939 bieten, als Prokofjew Stücke über den Krieg schrieb, die die Rote Armee unterstützten. Beachten Sie, dass 1939 die UdSSR noch klar als Aggressor zu gelten hat. Das Unternehmen Barbarossa, also der Einfall der Wehrmacht in die Sowjetunion, sollte erst Juni 1941 losgehen. Bis dahin war jede Unterstützung des Militärs natürlich eine Beweihräucherung von Stalins Expansionsträume. Entsprechend zeigt sich die Kriegsbegeisterung des Sowjets auch darin, dass zwei von Prokofjews Sonaten mit Stalinpreisen auszeichnet wurden. (Und ja, der Preis hieß wirklich nach dem Diktator, russisch: Государственная Сталинская премия.)
1941 kam der Krieg dann in die Sowjetunion und Prokofjew wurde zusammen mit anderen Künstlern aus der Hauptstadt nach Georgien evakuiert. Seine Ehefrau nahm dies zum Anlass, sich von ihm zu trennen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile eine Affäre gehabt und Carolina entschied sich daher, in Moskau zu bleiben. Diese Entscheidung ging jedoch von ihr aus. Ihrem Mann mochte nicht mehr viel an dieser Ehe liegen, aber er sorgte sich dennoch um seine Frau und Söhne. Und er wollte sie nicht so nahe bei der Front sehen.
So musste er sich von seiner Familie verabschieben. Erst 1944 sollte die Wehrmacht weit genug zurückgeschlagen sein, dass er nach Moskau zurückkehren konnte.
Während des „großen vaterländischen Krieges“ war der sowjetische Staatsapparat mit anderen Dingen beschäftigt, sodass den Künstlern in der UdSSR mehr künstlerische Freiheit gewährt wurde. Prokofjew nutzte diese Möglichkeit und schrieb einige sehr experimentelle Werke.
In diesem Stile wollte der Komponist auch nach dem Krieg fortfahren. Doch dann war es bald vorbei mit der Freiheit und Prokofjew stieß der Obrigkeit zunehmend übel auf, zumal sein Benehmen mit steigendem Alter wohl auch immer ruppiger wurde. Infolgedessen wurden acht seiner Stücke verboten. Das brachte Prokofjew auch in finanzielle Schwierigkeiten und der Komponist verschuldete sich immer schwerer.
Auch sein Privatleben war ein Wechselbad der Gefühle unter der stalinistischen Herrschaft. Er hatte 1947 beim Gericht um Scheidung seiner Ehe gebieten. Dieses schied die Verbindung nicht bloß, es erklärte sie sogar für von Anfang an ungültig unter sowjetischem Recht, weil die Vermählung in Deutschland geschehen und in der UdSSR nicht registriert worden war. Ein Jahr später heiratete Prokofjew seine Geliebte, die 26 Jahre jüngere Mira.
Prokofjews Exfrau wurde kaum mehr als einen Monat nach seiner zweiten Hochzeit wegen angeblicher Spionage verhaftet. Sie hatte ihrer Mutter in Spanien bloß Geld schicken wollen. Nach neun Monaten Verhör wurde sie zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt, wovon sie „nur“ acht Jahre tatsächlich durchleben musste, bevor man sie wieder freiließ. Ihre Freiheit sollte ihr Exmann jedoch nicht mehr erleben.
Dessen letzten Jahre waren tragisch. Von diesen Schikanen durch den Staatsapparat erschüttert, versuchte Prokofjew sich mit seinen letzten Werken bei den Herrschern linientreu lieb Kind zu machen. Doch damit hatte er wenig Erfolg. Er war ein gebrochener Mann, wurde immer mehr zum Eigenbrötler und durchlitt am 7. Juli 1949 seinen ersten Schlaganfall., Sogar im Tode wurde der Künstler Opfer des Stalinismus. Durch puren Zufall verstarb er am selben Tage wie der Diktator – am 5. März 1953. Weil er in der Nähe der Trauerstätte für Stalin, die auf dem Roten Platz errichtet wurde, gelebt hatte, konnte keine große Trauerfeier für ihn abgehalten werden. Am Ende wurde ein bis heute wichtiger Komponist von kaum 30 Leuten geehrt.
Hinterlasse einen Kommentar