Lady Mary Wortley Montagu, brachte die Pockenvariolation nach Großbritannien

Name: Lady Mary Wortley Montagu (geb. Pierrepont)

Lebensdaten: 15. Mai 1689 in Holme Pierrepont Hall, Nottinghamshire bis 21. August 1762 in London

In aller Kürze: Lady Mary Wortley Montagu war ein Freigeist zu einer Zeit, als adeligen Frauen wenig denken sollte. Doch mit ihrer Einführung der Variolation tat sie einen wichtigen Schritt für die Ausrottung der Pocken, der schlimmsten Seuche der Geschichte.

Im Detail: Einer der beliebtesten Artikel auf diesem Blog ist jener zu Edward Jenner, dem Erfinder der Impfung. Das ist ohne Frage nachvollziehbar, erschien er doch in der heißen Phase der Covid-Pandemie und beschrieb die Ausrottung der Pocken; aber wenn wir Ehre geben wollen, wem Ehre gebührt, dann müssen wir die Frau erwähnen, ohne deren Vorarbeit Jenner keinerlei Grundlage für seine Erfindung gehabt hätte. Lady Wortley Montagu brachte die Variolation nach Großbritannien.

Am 15. Mai 1689 kam Lady Mary Pierrepont in Holme Pierrepont Hall zur Welt. (Das liegt in Nottinghamshire. Es ist kein Ort im eigentlichen Sinne, sondern ein Herrenhaus in der Nähe von Nottingham. Die Pierreponts hatten dort schon seit ca. 1280, also 400 Jahre lang, residiert, als Mary geboren wurde.) Sie kam aus der Aristokratie. Als erstes Kind des Herzogs Evelyn Pierrepont von Kingston-upon-Hull und seiner Frau Mary Feilding, die die Tochter einer Earls war, hatte die junge Mary wirklich alle Möglichkeit, es im Leben zu etwas zu bringen. Sie hatte drei Blutsgeschwister (zwei Schwestern und einen Bruder), sowie zwei Halbschwestern – letztere gab es, weil Marys Mutter 1697 verstorben war und ihr Vater 1714 wieder geheiratet hatte.

Die junge Mary Pierrepont hatte nicht bloß die Chance auf großen Erfolg im Leben, sie hatte auch die genetische Lotterie gewonnen: Sie war gescheit, fröhlich, lernfähig, ambitioniert und (in einer Zeit doch ziemlich begrenzter Frauenrechte) wohl auch ein sehr hübsches Kind. Als Siebenjährige wurde sie von einem Männerclub als Beispiel für Schönheit auserkoren und ihr Name in einen gläsernen Kelch eingraviert, um dies zu feiern. (Wenn Ihnen das gruselig vorkommt, dann haben Sie Recht. Es erinnert mich sehr daran, wie es Männer gab, die zu Natalie Portmans 18. Geburtstag herunterzählten, nachdem sie Kinderstar geworden war. Im ausgehend 17. Jahrhundert war es aber auch leider nichts Ungewöhnliches.)

Marys Aufstieg kam leider schon mit 10 Jahren durch eine Tragödie vorerst zum Stoppen: Ihre Mutter, die sie umfangreich gefördert hatte, starb am 20. Dezember 1697. Die weitere Erziehung des Kindes fiel zunächst in die Hände ihrer mütterlichen Großmutter und nach deren Tod dann rasch in die ihres Vaters. Und der Vater sah keinen großen Sinn in einer umfassenden Ausbildung seiner ersten Tochter.

Deshalb wurde ihre weitere Erziehung von einem Kindermädchen übernommen. Mary würde später darüber berichten, es wäre eine der schlechtesten Ausbildungen der Welt gewesen, erfüllt von Aberglauben und Falschinformation. Sie hätte ihre Bildung komplett selbst sicherstellen müssen, indem sie sich täglich stundenlang in der Bibliothek versteckte und sich dem Selbststudium widmete. Wie zuverlässig diese Schilderungen, die Jahre später entstanden, wirklich waren, ist schwer zu beurteilen. Lady Mary mag es etwas extrem dargestellt haben – vermutlich lernte sie zumindest etwas von ihrem Kindermädchen, musste sich aber ihre höhere Bildung selbst aneignen.

Was dagegen gut dokumentiert ist, sind die Schreiben, die die junge Adelige verfasste. Sie führte sowohl längere Korrespondenzen mit Würdenträgern (zum Beispiel Bischöfen), als dass sie auch schon mit 14 Jahren Gedichte und Geschichten verfasste.

Als adelige Tochter musste ihr Weg in der damaligen Gesellschaft auf jeden Fall in die Ehe führen, egal welche anderen Ambitionen sie haben mochte. Zum Glück ließ sich die junge Mary nicht einfach irgendeinen Ehemann aufdrängen.

So konnte sie wenigstens einen Freund heiraten: Sie hatte eine gute Beziehung zu dem elf Jahre älteren Edward Wortley Montagu. Die beiden unterhielten eine lange Freundschaft, trafen sich häufig und schrieben einander immer wieder Briefe. Ganz so einfach war es aber nicht. Ihr Weg zur Ehe liest sich wie eine Telenovela.

Zunächst einmal zerstritten sie sich spektakulär. Weil ihr Vater eine Immobilie dort kaufte, musste Mary nach Acton ziehen – in ein Haus, dass sie hasste. Es war kalt, lieblos und hatte keine Bibliothek (aus Marys Sicht ein Todschlagargument). Sie litt dort sehr und zog sich außerdem die Masern zu und befürchtete, entstellt zu werden. Nach einem wenig einfühlsamen Witz von Edward wollte Mary diesen in den Wind schießen. Doch er konnte sie damit zurückgewinnen, dass er versprach, ihren Vater zu überzeugen. Der stand einer Verbindung seines ältesten Kindes mit diesem Verehrer eher skeptisch gegenüber, unter anderem, weil er ihn für zu arm hielt.

Zu den Wünschen des Vaters gehörte unter anderem hohe finanzielle Forderungen und Sonderrechte für den ersten Sohn, der aus dieser Ehe hervorgehen könnte. Der Vater untersagte seiner Tochter sogar die Korrespondenz mit Edward Wortley Montagu. Zunächst brach Lady Mary dieses Verbot nur kurz, um ihren Verehrer über dieses Hindernis zu informieren, auch wenn sie ihn dazu aufrief, mehr für sie zu kämpfen. Doch Edward tat dies nicht und hielt seinen Abstand.

Der Plan des Vaters wäre also aufgegangen, hätte er nicht mit massivem Druck versucht, seine Tochter mit einem Adeligen namens Clotworthy Skeffington zu verheiraten. Und das war ein großer Fehler: Mary fand den Mann grauenhaft. Mehr noch, als Freigeist lehnte sie den Zwang durch ihren Vater ab.

Mary wählte den einzigen Ausweg, der ihr blieb: Sie brannte durch, um Edward Wortley Montagu zu heiraten. Sie kam nur mit ein paar Kleidungsstücken zu ihm und hatte von einer Freundin ein Haus organisiert, in dem sie und ihr Bräutigam unterkommen könnten. Sie schreibt es in ihrem Brief an Edward nicht direkt, aber zwischen den Zeilen liest man sehr klar, dass sie dort mit ihm Sex haben wollte, damit ihr Vater kein Mittel mehr in der Hand hätte, die Ehe zu verhindern.

So heiratete das Paar im August 1712 – das genaue Datum ist nicht überliefert wegen der Geheimniskrämerei der ganzen Aktion.

Die ersten Jahre der Ehe verbrachte das Paar in England. Es war gezeichnet von einer Seuche, die noch von zentraler Wichtigkeit sein wird: den Pocken.

1713, im selben Jahr, in dem Mary ihren ersten Sohn zur Welt brachte, starb ihr Bruder im Alter von 20 Jahren an den Pocken. Er ließ eine Tochter und einen Sohn zurück. Im nächsten Jahr erkrankte Mary selbst an dieser Seuche. Sie überlebte, doch diese Krankheit war ein doppelter Schicksalsschlag für sie. Einerseits wurde ihr Gesicht von den Viren entstellt. Andererseits nutzten ihre Feinde am Hof ihre Abwesenheit, um satirische Texte Lady Wortley Montagus kontextfrei herumgehen zu lassen, so dass diese wie ein Angriff auf die Prinzessin von Wales wirkten.

Vielleicht war es dieser Skandal, der dafür sorgte, dass die Familie Wortley Montegu als Botschafter nach Istanbul geschickt wurden, um zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich einen Frieden auszuhandeln. Mit diesem hehren Ziel verbrachte die junge Familie die Zeit von 1716 bis 1718 in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches.

Auch wenn der Friede leider nicht zustande kam (der Krieg sollte erst enden, als die Wortley Montegus schon auf der Rückreise waren) und die eigentliche Absicht nicht zum Erfolg führte, konnte Lady Wortley Montegu für ihren Istanbulaufenthalt zwei Erfolge vorweisen: einen kleinen persönlichen und einen, der die Geschichte der Menschheit massiv verbessern sollte.

Zunächst einmal brachte sie eine gesunde Tochter zur Welt. Vor allem aber konnte sich die charismatische Dame in die türkische Oberschicht gut integrieren und umfassende Beschreibungen dieser Kultur verfassen und in ihre Heimat schicken. Diese Schilderungen hatten eine doppelte Wirkung: Sie machten das Osmanische Reich und seine Kultur beim englischen Adel zu einem Objekt der Faszination und einem beliebten Reiseziel. Wortley Montegus Erklärungen des Lebens der türkischen Frauen waren so malerisch und faszinierend (und aus heutiger Sicht auch offenkundig bisexuell), dass ihnen sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Und diese Aufmerksamkeit sollte Leben retten, denn in diesen Texten schilderte Lady Wortley Montegu auch eine revolutionäre medizinische Technik: die Variolation, ein Schutz vor den Pocken.

Die Pocken (auch „Blattern“) waren die schlimmste Seuche der Geschichte. Ihre Opferzahlen werden auf mindestens 500 Millionen geschätzt. Andere Schätzungen gehen sogar von mindestens 500 Millionen in den letzten 200 Jahren ihrer Existenz aus. Das sind zehn Weltkriege!

Der einzige Grund, warum Tuberkulose mehr Menschen umbrachte, ist, dass die Opferzahlen der Pocken rapide fielen, bis sie 1980 für ausgerottet erklärt wurden. (Am 8. Mai 1980 bestätigte es die WHO offiziell, die Verkündung der Wissenschaftler war schon am 9. Dezember 1979 verlautet worden, vor 45 Jahren dieses Jahr.) Und den ersten Schritt in diesem Kampf gegen die Seuche machte die Variolation.

Das war ein erstes Mittel, Menschen gegen das Virus zu immunisieren. Dabei wurde ein Patient mit dem Eiter von der Pocke eines Kranken absichtlich infiziert, um eine milde Form der Krankheit hervorzurufen. Wer einmal die Pocken kriegt, wird nämlich entweder versterben oder lebenslang immun sein.

Die Variolation wurde bereits im 10. Jahrhundert in China entwickelt, setzte sich global aber nur langsam durch. Das lag auch an ihren Nachteilen: Der Patient wurde immer noch krank, konnte davon entstellt werden oder gar daran sterben. Wenn die Chancen auch sehr viel besser standen, den Kampf gegen das Virus zu gewinnen, stellte man sich diesem doch bewusst zum Kampf.

Außerdem stand das Verfahren in der Praxis nur der Oberschicht zur Verfügung. Weil der Patient während der Variolation tatsächlich an den Pocken erkrankte (wenn auch mild), musste er versorgt werden und war auch ansteckend. Das war nur möglich, wenn man genug Geld hatte, um (a) den Verdienstausfall zu kompensieren und (b) eine arme Person zu bezahlen, einen ansteckenden Seuchenpatienten zu umsorgen.

All dieser Nachteile zum Trotz war die Variolation ein enormer Schritt nach vorn. Und ihre Einführung in Großbritannien war nicht nur wichtig wegen der Leben, die sie direkt rettete, sondern auch, weil sie die Grundlage bildete, auf der Edward Jenner die moderne Impfung entwickelte.

All dies ermöglichte erst Lady Mary Wortley Montagu mit ihrem Einsatz für die Variolation. Dieser ging nämlich deutlich über einen simplen Reisebericht hinaus. Als eine Frau, die von den Pocken gezeichnet war und die einen Bruder an die Seuche verloren hatte, war sie sehr motiviert, irgendein Mittel gegen dieses Unheil zu fördern.

Wichtige Anmerkung: Das versteht sich leider nicht so von selbst, wie es jetzt klingen mag. Einige der heftigsten Kritiker der Pockenimpfung waren Eltern, die Kinder an die Pocken verloren hatten. Viele dieser Menschen hatten sich diese Schicksalsschläge schöngeredet, indem sie sie als Teil des göttlichen Plans sahen, und wollten einfach nicht hören, dass ihre Kinder noch leben könnten, hätte man bloß gewusst, welche Spritze sie rechtzeitig bekommen sollten. Hier zeigt sich also nicht bloß Lady Wortley Montagus Schicksal, sondern auch ihr rationaler Umgang damit, der sie motivierte.

Und motiviert war sie. Im März 1718 ließ sie ihren vierjährigen Sohn Edward immunisieren, der damit der erste Engländer war, der unseres Wissens jemals varioliert wurde. Nach ihrer Rückkehr nach England warb sie aggressive für dieses Verfahren.

Ihr Erfolg hielt sich zunächst in Grenzen. Trotz ihrer adeligen Herkunft war sie am Ende eine Frau und wurde daher eh kaum gehört. Außerdem ging es hier um ein traditionelles Verfahren aus einem muslimischen Land, was die christlichen Ärzte in England durchaus kritisch sahen.

Zum Glück hatte Lady Wortley Montagu sich mit ihrem Reisebericht bereits einen Namen gemacht. Als 1721 eine Pockenepidemie England heimsuchte, konnte sie ihren Ruf einsetzen, um die Variolation zu bewerben. Als erstes ließ sie ihre Tochter immunisieren und machte diese Entscheidung (und ihren guten Ausgang) öffentlich.

Sie konnte damit die Prinzessin von Wales überzeugen, das Verfahren zu testen. Was diese an sieben Zumtodeverurteilten durchführen ließ. Alle sieben überlebten und die Prinzessin ließ ihre beiden Töchter 1722 erfolgreich variolieren. Damit war die Variolation ein Mittel adeligen Familien geworden. Bspw. wählte Katharina die Große diesen Pockenschutz für sich und ihren Sohn Paul, welcher später zum Zaren von Russland werden sollte. (Erst Jenners Pockenimpfung sollte für alle gesellschaftlichen Schichten zugänglich sein.)

Nachdem sie ihren wichtigen Beitrag zur Ausrottung der Pocken geleistet hatte, ging Lady Wortley Montagus Leben relativ gewöhnlich weiter. Sie zog sich aus dem höfischen Leben zurück und kümmerte sich vor allem um Familie und Kinder.

Die machten es ihr auch nicht gerade einfach. Ihr Sohn lief in seiner Jugend mehrfach weg und ihr Verhältnis zu ihm sollte lebenslang ein angespanntes sein. Ihre Tochter Mary zankte mit ihrer Mutter über die Wahl des Ehemannes, denn die Mutter fand den Kandidaten zu arm, um geeignet zu sein. Also brannte die Tochter mit ihm durch. (Sie mögen die Symmetrie und damit Ironie des Widerstands der Mutter erkennen.)

Besonders geheuchelt scheint es, weil Lady Mary Wortley Montagu noch im selben Jahr einen italienischen Grafen kennenlernte, in welchen sie sich so heiß verliebte, dass sie England unter einem Vorwand verließ und mit diesem in Venedig lebte. Ihren Ehemann sollte sie nie wiedersehen.

Die heiße Romanze hielt bis 1741. Danach reiste Lady Wortley Montagu 20 Jahre lang praktisch ständig durch Europa, wobei sie mit ihrer Tochter in regem Briefkontakt stand. Nach England kehrte sie erst zurück, nachdem ihr Mann am Neujahrstag 1761 verstorben war. Sie beeilte sich jedoch nicht gerade und wurde teilweise auch durch Unwetter aufgehalten. So kam sie erst im Januar 1762 in London an. Dort sollte sie wenige Monate später, am 21. August 1762, an Krebs versterben.

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