Name: Charles Vance Millar
Auch bekannt als: Veranstalter des „Großen Storchen-Rennens“
Lebensdaten: 28. Juni 1854 in Aylmer, Ontario bis 31. Oktober 1926 in Toronto
In aller Kürze: Als der reiche Geschäftsmann Charles Vance Millar starb, hatte er keinerlei Erben. Da er zu Lebzeiten ein ziemlicher Witzbold gewesen war, nutzte er diese Tatsache, um ein wirklich abenteuerliches Testament zu hinterlassen. Vor allem sein „Großes Storchen-Rennen“ ging in die Annalen der Stadt Toronto ein.
Im Detail: Charles Millar war der Sohn eines Bauernpaars in Ontario. Weil er ein Einzelkind war, konnten seine Eltern alle ihre Ressourcen in ihn investieren und ihm eine gute Ausbildung ermöglichen. Millar war zudem klug und fleißig, sodass er an der Universität von Toronto einen Notenschnitt von 98 % erreichte. Er entschied sich für ein Jurastudium und wurde Anwalt. 1884 eröffnete er eine Kanzlei in Toronto – schon damals eine der größten Städte Kanadas. Wirklich reich sollte er aber erst als Geschäftsmann werden.
Zunächst erwarb er im Jahre 1897 ein Transport- und Postunternehmen, welches damals mit Pferdekutschen arbeitete. Er konnte damit lukrative Verträge für staatliche Sendungen erlangen. Später baute Millar den Dienst aus, indem er zwei Schaufelraddampfer anschaffte. Besonders nützlich erwies sich, dass das nationale Eisenbahnnetz zu dieser Zeit bis zu der Stadt Fort George ausgebaut wurde. Millar erwarb dort Land und brachte seinen Konzern in Stellung, um massiv von dem folgenden Aufschwung der Stadt zu profitieren. (Der Ort heißt heute Prince George, nach dem Adeligen, nach dem er ursprünglich benannt wurde. Er ist bis heute wohlhabend und bedeutend, auch wenn er nur ~75.000 Einwohner hat.)
Charles Vance Millar konnte also ein beträchtliches Vermögen in seinem Leben aufbauen. So viel Geld will natürlich auch ausgegeben werden. Und weil Millar das Leben genoss, fand er gute Wege, das zu tun. Er kaufte ein Ferienhaus auf Jamaica, wo er gerne Urlaub machte. (Man beachte, dass die Luftfahrt damals noch in den Kinderschuhen steckte und der Schienen- und Seeweg von Toronto in die Karibik nicht gerade kurz ist. Das war also wirklich sehr aufwendiger Urlaub.)
1913 erwarb Millar große Anteile an der Brauerei Carling O’Keefe, was gleich noch wichtig werden wird.
Er liebte Pferderennen. Ursprünglich wollte er eine Pferderennbahn in Kingston auf Jamaica bauen lassen, entschied sich dann aber doch dafür, den Bau einer Rennbahn in Windsor, Ontario zu unterstützen. Windsor liegt „nur“ 350 km von Toronto entfernt und damit viel näher als Jamaica, aber für die damaligen Verhältnisse auch nicht gerade um die Ecke.
Auch in anderen Gebieten war Millars Charakter zumindest schrullig. So schlief er in aller Regel bei jedem Wetter draußen auf seiner Veranda, um sich abzuhärten. Außerdem bevorzuge er in seinen engsten Geschäftsbeziehungen mündliche Verträge und Handschlag anstatt von schriftlichen Dokumenten. Das war wohl auch deshalb anstrengend, weil er gerne Lücken in Abmachungen zu seinen Gunsten ausnutzte.
Charles Vance Millar verstarb am 31. Oktober 1926. Er hatte nie eine ernstere Beziehung gehabt und verfügte daher über keinen Erben. Trotzdem hatte er einiges zu vererben. Allein sein Vermögen betrug über 330.000 kanadische Dollar – inflationsbereinigt entsprach das ca. 3,2 Millionen Euro. Dazu kamen Geschäftsanteile und Immobilien und weiterer Sachbesitz. Das wusste der Anwalt und Geschäftsmann natürlich vorher und hinterließ ein Testament, das es in sich hatte.
Hier wurde Millars kauziges Wesen ein letztes Mal sichtbar, denn er war ein Streichkönig. Er hatte es schon zu Lebzeiten geliebt, Leuten kleine Streiche zu spielen. Und posthum hielt sich Charles Vance Millar gar nicht mehr zurück. In seinem letzten Willen schrieb er ganz direkt, dieser sei ungewöhnlich und launenhaft, weil er keine Erben habe und den Fehler gemacht habe, mehr Vermögen anzuhäufen, als er in seinem Leben habe brauchen können.
So vererbte er sein Sommerhaus auf Jamaica an drei Männer, von denen allgemein bekannt war, dass sie einander verabscheuten. Sie durften das Erbe aber nur unter der Bedingung antreten, sie würden dort zu dritt wohnen.
Seinen Anteil an der Brauerei Carling O’Keefe, die übrigens katholisch war, teilte er unter allen protestantischen Pfarrern und Oranier-Ordenshäusern Torontos auf. (Der Oranier-Orden ist radikal protestantisch und antikatholisch.) Voraussetzung war hier, dass die Erben die Brauerei auch tatsächlich mitverwalteten und ihren Anteil an den Gewinnen des Unternehmens entgegennahmen.
Seine Anteile an einer Pferderennbahn vererbte er an Gegner des Pferderennens, so sie denn drei Jahre lang Anteilseigner bleiben würden.
Besonders wichtig für die nächste Generation war aber der größte Teil von Millars Erbe. Unter dem Namen „das Große Storchen-Rennen“ (englisch: Great Stork Derby – man beachte den Begriff „Derby“ aus dem von Millar geliebten Pferderennen) lobte er ca. 500.000 kanadische Dollar an die Frau(en) aus, die in Toronto innerhalb der nächsten zehn Jahre die meisten Kinder zur Welt bringen würde(n). Toronto hatte damals eine niedrige Geburtenrate und Millar wollte das ändern. 500.000 Dollar 1926 entsprächen heute mehr als fünf Millionen Euro, was wirklich ein starker Anreiz sein sollte.
Als das Rennen verkündet wurde, gab es einen Aufschrei in der Öffentlichkeit. Schließlich ist ein Aufruf, vieler Kinder zu kriegen, auch eine Aufforderung, viel Sex zu haben. Und Toronto war damals sehr prüde.
Außerdem war so eine große Summe natürlich auch für andere verlockend. Angebliche Verwandte traten plötzlich zutage und erhoben Anspruch auf Millars Erbe, nur um als Hochstapler entlarvt zu werden.
All dieser Gegenwind scheiterte und elf Frauen traten das Rennen an. Davon wurden sieben im Laufe der zehn Jahre disqualifiziert – unter anderem wegen Fehlgeburten oder zweifelhafter Vaterschaft der Kinder. Am Ende brachten vier Frauen in Summe 36 Kinder zur Welt, jede der Siegerinnen hatte neun Kinder geboren und wurde mit 110.000 Dollar belohnt (= 1,1 Millionen Euro, inflationsbereinigt). Zwei der Disqualifizierten erhielten 12.500 Dollar in der Schlichtung, damit sie ihre Klagen gegen das Urteil fallenließen. (Ihre Kinder waren für illegitim erklärt worden, was vor der Erfindung des Vaterschaftstests sehr viel schwieriger zu überprüfen war als heute und daher sehr lange Prozesse vom Zaun brechen konnte.)
Dass die Summen am Ende so hoch ausfallen konnten, lag auch daran, dass Millars Portfolio in den zehn Jahren noch ziemlich an Wert gewonnen hatte, weil er kurz vor seinem Tod in ein sehr lukratives Tunnelprojekt investiert hatte.
Ob Charles Vance Millar mit seinem Großen Storchen-Rennen wirklich für mehr Nachwuchs in Toronto sorgte, ist übrigens umstritten. „Vier Frauen mit je neun Kindern“, klingt viel. Aber die Stadt hatte damals schon eine halbe Millionen Einwohner. Darunter vier Frauen zu finden, die viele Kinder haben wollen, wäre heute schon wenig überraschend. Und in den 1920ern waren die Familien auch im Schnitt deutlich größer als heute. Man könnte durchaus vermuten, die Damen hätten ebenso viele Kinder gekriegt, wären sie nicht dafür bezahlt worden.
Keiner weiß also so genau, was denn nun der Effekt des absurden Wettstreits war. So bleibt Millars Testament auch in dieser Hinsicht die Hinterlassenschaft eines Witzbolds.
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