Chien-Shiung Wu, First Lady der Physik

Name: Chien-Shiung Wu (Chinesisch: 吳健雄)

Auch bekannt als: First Lady der Physik, Königin der Kernforschung, chinesische Marie Curie

Lebensdaten: 31. Mai 1912 in Liuhe, Taicang, Jiangsu, China bis 16. Februar 1997 in New York

In aller Kürze: Von China in die USA: Chien-Shiung Wu war eine absolut brillante Physikerin, die in den USA Karriere machte. Besonders wichtig war das Wu-Experiment, in welchem sie zeigte, dass die Naturgesetze nicht komplett symmetrisch sind.

Im Detail: Am 31. Mai 1912 wurde in China, ca. 50 Kilometer nördlich von Shanghai, eine der wichtigsten Physikerinnen des 20. Jahrhunderts geboren. Später sollte sie in die USA gehen, und die Wirren des Zweiten Weltkrieges und der kommunistischen Revolution sollten sie in in Amerika halten, wo sie am Manhattan-Projekt arbeiten und später legendäre Experimente in der Teilchenphysik durchführen würde.

Chien-Shiung Wu war das Kind von sehr gebildeten Eltern, die sie in ihrem Streben nach Wissen und Bildung stets unterstützten. (Ihr Familienname, Wu, steht im Chinesischen übrigens vorne. Sie sollte ihn aber bei ihrer Einbürgerung in die USA ans Ende setzen und dieser Artikel wird sie daher zum Zwecke der Konsistenz so schreiben.) Ihre Mutter war Lehrerin und setzte sich für Bildungschancen beider Geschlechter ein, was damals in China bei Weitem keine Selbstverständlichkeit war. Ihr Vater, zu dem Chien-Shiung ein sehr enges Verhältnis hatte, war Ingenieur und für seine Zeit extrem liberal und revolutionär. Er unterstützte revolutionäre Bewegungen und kämpfte sogar für die Revolution von 1911, die das chinesische Kaiserreich stürzte und eine Republik etablierte.

Wichtig für seine Rolle als Förderer seiner Tochter ist auch seine Gründung einer Schule, die Mädchen aller Gesellschaftsschichten aufnehmen und fördern sollte. Auch seine Tochter würde diese besuchen. In ihrer Ausbildung unterstützte der Vater Chien-Shiung, die sehr wissbegierig und geradezu lesewütig war, so gut er nur konnte. Anstatt von Kindergeschichten, soll er seiner Tochter wissenschaftliche Aufsätze vorgelesen haben. Als sie mit zehn Jahren auf eine weiterführende Mädchenschule kam, hätte sie sich den Platz mit dem Geld ihres Vaters erkaufen können. Sie entschied sich aber, sich aufgrund ihrer Leistungen zu bewerben und kam in der Aufnahmeprüfung auf Platz neun – unter circa. 10.000 Bewerbern. Hochintelligent geboren und von den Eltern zur Bildung und zur Wissenschaft gefördert, konnte Chien-Shiung Wu eigentlich nur Erfolg haben. 1929 schloss sie als Klassenbeste ab.

Anschließend studierte sie in Nanjing. Natürlich funktionierten die chinesischen Studiengänge etwas anders als unsere, aber ihr Studienziel lässt sich in etwa als Studium auf Lehramt übertragen. Dazu gehörte auch ein Praktikum an einer Schule. Chien-Shiung Wu war dazu für ein Jahr an einer Schule in Shanghai. Dieses Praktikum war wohl weitestgehend pro forma, weil man der brillanten Frau keine Steine in den Weg legen wollte. Formend war es für Wu trotzdem, weil die Schule vom angesehenen Philosophen und Politologen Hu Shi geleitet wurde. Hu Shi war ein einflussreicher Denker und Modernisierer in China. Er wurde für Chien-Shiung Wu noch mehr als das. Das Verhältnis der beiden wurde sehr eng. Sie sah ihn bald als einen zweiten Vater und sollte bis zu seinem Tod im regelmäßigen Kontakt mit ihm bleiben. (Bspw. besuchte er sie immer wieder in den USA, nachdem sie nach Amerika gezogen war.)

Bis 1930 entschied Wu sich dann, in die Naturwissenschaften und Mathematik zu gehen. Weil sie sich selbst als von ihrer Schule zu wenig in diesem Gebiet vorbereitet sah, eignete sich Wu komplexe Mathematik in bloß einem Sommer im Selbststudium an. Darin war dieses Genie erfolgreich genug, um Mathematik sogar im Hauptfach zu studieren, auch wenn Wu später in die Physik wechseln sollte. (Mal ganz abgesehen davon, was das über ihren Intellekt aussagt, hatte es noch einen interessanten Nebeneffekt: Weil ihre Schulbildung eher in die sprachliche Richtung ging, konnte Wu exzellente Aufsätze schreiben und hatte große Fähigkeiten als Verfasserin von Texten.)

Nach ihrem Abschluss ging Wu in die USA. Ursprünglich wollte Sie nach Michigan, aber der Sexismus dort schreckte sie ab. (Frauen durften zum Beispiel den Vordereingang der Universität nicht verwenden.) So entschied sie sich für Berkeley. Der Leiter der Physikalischen Fakultät in Berkeley, Raymond T. Birge, bot der genialen Frau direkt einen Studienplatz an, auch wenn das Semester eigentlich schon lief.

Chien-Shiung Wu konnte sich innerhalb kürzester Zeit in den USA etablieren, obwohl sie sich durchaus mit rassistischen Hürden konfrontiert sah. Diese Randgruppenrolle war es vielleicht, die Wu auch dazu animierte, viele Freundschaften und auch professionelle Kooperationen mit anderen Einwanderern zu unterhalten. Sie war mit anderen Chinesen ebenso befreundet wie mit Deutschen, die vor den Nazis geflohen waren, Italienern, die ebenfalls ausgewandert waren, und vielen mehr.

Der italienische Physiker Emilio Segrè war hier besonders wichtig. Wu wurde rasch zu seiner Lieblingsschülerin. Die beiden führten verschiedene Experimente zum radioaktiven Zerfall durch. Diese ersten Schritte in Richtung Kernforschung und Arbeit mit Elementarteilchen würden sich für den Rest von Wus Karriere als sehr bedeuten herausstellen.

Chien-Shiung Wu konnte sich aber nicht nur beruflich etablieren. Entgegen des Klischees des entrückten Wissenschaftlers war Wu sehr charismatisch und beliebt. Sie galt auch als sehr attraktiv. Sie lernte Luke Chia-Liu Yuan kennen, den illegitimen Enkelsohn von Yuan Shikai. (Yuan Shikai war ein General, welcher de facto das chinesische Kaiserreich auflöste, wobei er sich für kurze Zeit selbst zum Kaiser ernannte, bevor er erst vor Revolutionären fliehen musste und wenige Tage später an Krankheit verstarb.) Luke Yuan und Chien-Shiung Wu fingen eine Beziehung an und würden 1942 heiraten.

So konnte Wu feste persönliche Bande in Amerika aufbauen. Bande, die sie bald brauchen würde, denn so sehr Wu ihre Heimat China vermisste, mit der Besetzung des Landes durch Japan und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war ihr der Rückweg abgeschnitten.

Nach ihrer Zeit in Kalifornien ging Wu erst nach New Jersey und wurde die erste Frau im Lehrkörper der Princeton University. 1944 berief J. Robert Oppenheimer, der Wu noch aus ihrer Zeit in Berkeley kannte, in das Manhattan-Projekt. Chien-Shiung Wu war somit indirekt am Bau der ersten Atombombe beteiligt. Sie entwickelte Strahlungsmessgeräte, um die Anreicherung von Uran zu überwachen. Dieses Verfahren verbesserte sie später weiter, sodass Wus Konzept zur Urananreicherung zum Standard für das Projekt wurde. Sie stand aber auch beratend zur Seite und konnte John Archibald Wheeler und Enrico Fermi helfen, ein Problem mit einem nuklearen Testreaktion zu lösen. (Wie viele Physiker würde Wu ihren Beitrag zum Manhattan-Projekt später übrigens bereuen.)

Nach dem Krieg ging Wu nach New York und wurde Professorin an der Columbia University. Dort sollte sie auch bis zu ihrem Lebensende bleiben, was überhaupt nicht Chien-Shiung Wus Plänen entsprach. Eigentlich zog es sie wieder nach China, welches sie sehr vermisste. Aber mit der Machtübernahme der Kommunisten blieb sie dann doch lieber in den USA und richtete ihr Leben in ihrer Wahlheimat ein. Dort brachte sie 1947 auch ihr einziges Kind zur Welt – ihren Sohn Vincent.

An der Columbia University führte sie viele bahnbrechende Versuche durch. Am wichtigsten für die Physik sollte aber das nach ihr benannte Wu-Experiment sein. Sehr vereinfacht gesagt, lässt sich dieses Experiment so beschreiben: Man ging in der Physik davon aus, jeder Prozess wäre paritätisch – das heißt, die Naturgesetze unterschieden nicht zwischen links und rechts, oben und unten usw. Diese Annahme ergibt intuitiv Sinn. Wir nehmen normalerweise nicht an, das Universum wäre Rechtshänder oder Linkshänder. Und im Falle der Schwerkraft, des Elektromagnetismus und der Starken Kernkraft stimmt das auch. (Bspw. zieht die Erde Sie immer gleichstark an, egal ob Sie sich linksherum oder rechtsherum auf Ihrem Bürostuhl drehen.)

Nun gibt es noch eine vierte Kraft im Universum: die Schwache Kernkraft, welche bei radioaktiven Prozessen eine Rolle spielt. Und es war um diese Zeit mehreren Wissenschaftlern aufgefallen, dass zwar alle davon ausgingen, die Schwache Kernkraft wäre paritätisch, es aber niemals jemand überprüft hatte. Außerdem ergaben viele neuere Messungen aus der Kernphysik sehr viel mehr Sinn, wäre das nicht der Fall.

Die beiden Physiker Tsung-Dao Lee und Chen Ning Yang (ebenfalls mit chinesischen Wurzeln) entwarfen ein Experiment, um dies zu messen. Und Chien-Shiung Wu hatte die nötige experimentelle Raffinesse, es in die Tat umzusetzen.

Sie vermaß den radioaktiven Zerfall eine Kobaltisotopes in einem starken Magnetfeld. Dadurch richtet sich eine Eigenschaft der Atomkerne, der sogenannte Spin, im Magnetfeld aus. Das Isotop 60Co durchläuft Beta-Zerfall und schießt dabei ein Elektron heraus. Weil sie geladene Teilchen sind, bewegen sich diese Elektronen bevorzugt entlang der Magnetfeldlinien. Wäre die Schwache Kernkraft paritätisch, so sollte es einem Elektron egal sein, ob es in Richtung Nordpol oder in Richtung Südpol aus dem Kern herausfliegt. Der ausgerichtete Spin der Kerne sollte keinen Einfluss haben.

Doch Wu konnte zeigen, dass er den sehr wohl hat; dass die Naturgesetze wirklich links und rechts auseinanderhalten können. Das war eine absolute Revolution, für die die brillante Physikerin bis heute in Fachkreise legendär ist.

In ihren späteren Jahren wurde Wu auch politisch wieder aktiver – sprach sich gegen Unterdrückung in China und Taiwan aus und kritisierte Sexismus an amerikanischen Universitäten. 1975 wurde sie als erste Frau Präsidentin der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft. In dieser Zeit erhielt sich auch den Beinamen der First Lady der Physik.

1981 ging Wu in den Ruhestand und verbrachte ihre letzten Jahre damit, China, Taiwan und unterschiedliche Unis in Amerika zu bereisen. Sie starb 1997 in New York. Entsprechend ihres Testaments wurde ihre Asche in jener Schule begraben, die ihr Vater gegründet hatte und die sie vor all den Jahren besucht hatte – ganz am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere.

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