Heike Kamerlingh Onnes, Entdecker der Supraleitung

Name: Heike Kamerlingh Onnes

Lebensdaten: 21. September 1853 in Groningen bis 21. Februar 1926 in Leiden

In aller Kürze: Von verflüssigten Gasen bis zum MRT: Heike Kamerlingh Onnes entdeckte das technisch sehr wichtige Phänomen der Supraleitung.

Im Detail: Heike Kamerlingh Onnes wurde am 21. September 1853 in Groningen geboren, als Sohn von Harm Kamerlingh Onnes und Anna Gerdina Coers. Der Vater Harm besaß eine Ziegelsteinfabrik. Heike Kamerlingh Onnes kam also nicht aus der reichen Oberschicht, aber seine Familie war auch nicht gerade arm.

Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass die Bildung hoch auf der Tagesordnung für Kamerlingh Onnes stand. Nachdem er die höhere Bürgerschule in Groningen besucht hatte, begann er 1870 sein Studium der Naturwissenschaften an der Reichsuniversität Groningen, als er etwa 17 Jahre alt war. Und er studierte mit großem Erfolg. Von 1871 bis 1873 verbrachte er einige Semester an der Universität Heidelberg, wo er unter anderem von Robert Wilhelm Bunsen lernte. (Den kennen Sie als Erfinder des Bunsen-Brenners.) Kamerlingh Onnes war als Student in Heidelberg derart fleißig und begabt, dass er einen Seminarpreis erringen konnte.

Wieder zurück in Groningen erhielt er 1878 seinen Magister und konnte schon am 12. Juli 1879 seinen Doktortitel erringen. Seine Doktorarbeit hatte ein geradezu putziges Thema: Neue Belege für die Drehung der Erde (Niederländisch: Nieuwe bewijzen voor de aswenteling der aarde). Unter anderem mit dem Foucault’schen Pendel führte Kamerlingh Onnes neue Belege dafür auf, dass sich die Erde um sich selbst dreht. Die Erdrotation 250 Jahre nach dem Tode Johannes Keplers noch weiter zu belegen, finde ich zumindest wirklich ungewöhnlich.

Ab 1878 war Kamerlingh Onnes als Assistent an der polytechnischen Schule in Delft tätig, wo er auch erste Lehrerfahrungen sammelte, als er seinen vorgesetzten Professor vertrat. 1882 wurde er dann auch zum Professor der experimentellen Physik an die Universität Leiden berufen.

Seine Einstiegsvorlesung trug den Titel Über die Bedeutung der quantitativen Forschung in der Physik (Niederländisch: Over de beteekenis van het quantitatief onderzoek in de natuurkunde). Ähnlich wie der Erdrotation war das nicht unbedingt eine neue Erkenntnis. Zu jener Zeit war jedoch die theoretische Physik sehr angesehen und die Bedeutung des Experiments schien etwas vermindert. Erst die Durchbrüche Anfang des 20. Jahrhunderts – Relativitätstheorie und Quantenmechanik – sollten sehr deutlich machen, dass egal wie plausibel theoretische Modelle sein mögen, die Beobachtung am Ende König ist.

Ich formuliere dies gerne als das Mantra der Wissenschaft: Wenn Theorie und Praxis nicht übereinstimmen, ist es nicht das Universum, das sich irrt. Kamerlingh Onnes formulierte es auf eine Weise, die sein Lebensmotto werden sollte: „Durch Messen zum Wissen“ (niederländisch reimt es sich: „Door meten tot weten“).

Professor Kamerlingh Onnes war also auf dem guten Weg, sich als bedeutender Forscher zu etablieren.

Auch im Privatleben lief es gut für den begabten Physiker: Am 8. September 1887 heiratete er Maria Adriana Wilhelmina Elisa Bijleveld, die Tochter eines Richters aus Den Haag. Aus der Ehe ging, soweit ich das recherchieren konnte, nur ein Kind hervor: der Sohn Albert.

Seine wissenschaftliche Arbeit trug dagegen mehrere Früchte. Denn Professor Kamerlingh Onnes’ Forschung war im wahrsten Sinne des Wortes cool: Er war Fachmann für wirklich tiefe Temperaturen.

Schon Anfang des 19. Jahrhunderts hatte man herausgefunden, dass wirklich spannende Dinge passieren, wenn man Gase verflüssigt. Zunächst erreichte man die Verflüssigung durch hohen Druck. Bspw. entdeckte Charles Cagniard de la Tour, dass Gase oberhalb des sogenannten kritischen Punktes von Flüssigkeiten nicht mehr zu unterscheiden sind – die Gasteilchen werden quasi so eng zusammengepresst, dass sie so nahe beieinander sind wie in einer Flüssigkeit.

Gase durch Druck zu verflüssigen, ergibt jedoch einige praktische Schwierigkeiten: Schon kleine Undichtheiten der Apparatur und das Gas entfleucht. Birst das Gerät gar, explodiert es im Wortsinne. Eine viel sichere Methode ist es, Gas durch Abkühlen zu Verflüssigen.

Das erreicht man, indem man sich zunutze macht, dass die allermeisten Gase sich abkühlen, wenn sie sich ausdehnen. Mit kontrolliertem Wechsel zwischen Kompression und Expansion bei Wärmeabführung kann man Sachen abkühlen – so funktioniert jeder Kühlschrank und jede Wärmepumpe. Treibt man es ins Extrem, kann man damit aber auch sehr tief herunter kühlen – bspw. um Luft zu verflüssigen.

Im Deutschen nennt man diese Methode der Luftverflüssigung das Linde-Verfahren, international ist es auch als Hampson-Linde-Verfahren bekannt, weil Carl von Linde und William Hampson es fast zeitgleich entwickelten. (Tatsächlich war Hampson sogar etwas schneller: Er meldete seine Erfindung am 23. Mai 1895 zum Patent an, Linde erst 13 Tage später, am 5. Juni. Allerdings etablierte sich in Zeiten des Nationalismus der rein deutsche Name im deutschen Sprachraum. Außerdem ist die Firma Linde danach benannt, sodass auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. Aber das nur nebenbei.)

Zurück zu Heike Kamerlingh Onnes: Denn während dieses Verfahren geradezu banal klingen mag – schließlich besitzen wir alle Kühlschränke – ist es in der Praxis durchaus herausfordernd, damit wirklich tiefe Temperaturen zu erreichen. Und Kamerlingh Onnes konnte es hier zu erheblicher Expertise bringen.

Tatsächlich sollte das Hampsen-Linde-Verfahren vielleicht Kamerlingh-Onnes-Verfahren heißen, denn während die beiden Ingenieure die großtechnische Umsetzung erst 1895 umsetzen konnte, war Prof. Kamerlingh Onnes schon 1891 so weit, im größeren Maße Luft zu verflüssigen. Er konnte im Labormaßstab bis zu 8 Liter pro Stunde erreichen. Das mag nicht wie viel wirken, aber flüssige Luft ist über 700-mal dichter als gasförmige Luft unter Normalbedingungen. Um 8 Liter flüssige Luft zu erhalten, muss man mit 5800 Litern oder 5,8 Kubikmetern Luft anfangen.

Auf diesen Erfolgen baute Prof. Kamerlingh Onnes weiter auf. 1894 verfügte er bereits über ein Kältebad voll flüssigem Sauerstoff. Unter Normaldruck bedeutet das eine Temperatur von -183 °C, was nicht nur schwierig zu erreichen ist, sondern auch schwer sicher zu handhaben. (Im Falle von flüssigem Sauerstoff nicht bloß wegen der Gesundheitsgefahr des Kältebrandes. Wie oben erwähnt, sind verflüssigte Gase viel, viel dichter als ihr gasförmiger Normalzustand, weil die Teilchen in ihnen so viel enger beieinander sind. Das hat zur Folge, dass flüssiger Sauerstoff extrem intensive Brände unterhalten kann, sobald etwas in ihm Feuer fängt. Ein beliebtes Schauexperiment ist es, eine Zigarre in flüssigen Sauerstoff zu tauchen. Zündet man sie danach an, so brennt diese so heiß, dass man damit Metall schweißen kann.)

Sauerstoff blieb aber nicht das einzige Gas, welches Heike Kamerlingh Onnes verflüssigen sollte: 1906 kam er bis auf -196 °C herunter, um Stickstoff zu verflüssigen. Nur zwei Jahre später, 1908, gelang ihm dann der wirklich große Wurf. Am 10. Juli 1908 erhielt er als erster Mensch jemals flüssiges Helium – bei -269 °C. Das ist nur 4 °C wärmer als der absolute Nullpunkt, die niedrigste Temperatur, die überhaupt möglich ist. (Genauso wie Dunkelheit kein eigenes Phänomen ist, sondern nur der Name, den wir der Abwesenheit von Licht geben, gibt es eigentlich gar keine Kälte. Es gibt nur Wärme und „Kälte“ nennen wir deren Abwesenheit. Also gibt es eine tiefste Temperatur, wenn man alle Wärme aus einer Probe entfernt hat. Diese Temperatur beträgt -273,15 °C.)

Diese sehr kalten Kältebäder erlaubten es Kamerlingh Onnes eine wichtige Frage der damaligen Forschung zu klären. Denn damals spekulierten viele Physiker unterschiedlicher Fachgebiete darüber, wie sich der elektrische Widerstand eines Leiters entwickeln würde, wenn man ihn immer weiter abkühlt. Unter den halbwegs normalen Bedingungen unseres täglichen Lebens nimmt der Widerstand von Metallen mit steigender Temperatur zu – sie leiten den Strom immer schlechter. (Das unterscheidet sie übrigens von Halbleitern, die umso besser leiten, je heißer sie werden.) Daher gab es drei Vorhersagen, wie sich der elektrische Widerstand eines Metalls entwickeln sollte, wenn man es immer weiter abkühlt:

Einige Physiker dachten, der Trend sollte sich umkehren, die Leitfähigkeit sollte gegen Null gehen und der Widerstand am absoluten Nullpunkt unendlich sein. Die Idee hierhinter war, die Elektronen sollten bei tieferen Temperaturen immer träger werden, bis sie sich irgendwann gar nicht mehr bewegten.

Andere spekulierten, der Widerstand sollte sich mit fallender Temperatur immer weiter Null annährend, sodass am absoluten Nullpunkt die Leitfähigkeit sämtlicher Metalle unendlich wäre. Professor Kamerlingh Onnes vertrat diese These.

Manche dachten, der Widerstand würde fallen und sich einem konstanten Wert annähern. Dann hätte jedes Material am absoluten Nullpunkt eine spezifische Leitfähigkeit. Dieser Gedanke war durchaus plausibel, denn es gibt jede Menge andere spezifische Stoffkonstanten, die sich so verhalten. Bspw. hat jedes Metall eine spezifische Dichte, bis zu der es sich zusammenzieht, während man es immer weiter abkühlt. (Die Dichte wird nicht etwa irgendwann unendlich, sonst bekäme man ein Schwarzes Loch.)

Vor diesem Problem stehend tat Kamerlingh Onnes das einzige, was wissenschaftlich solide ist: Er probierte es 1911 einfach aus. Die Beobachtung hat in den Naturwissenschaften eben immer das letzte Wort.

Und es war sehr gut, dass Kamerlingh Onnes das Experiment machte, denn das Resultat zeigte, dass alle drei Hypothesen falsch lagen: Als Kamerlingh Onnes Quecksilber mittels flüssigen Heliums tiefkühlte, fiel dessen Widerstand nicht etwa auf einen sehr tiefen Wert, der sich zum absoluten Nullpunkt langsam 0 Ohm annäherte. Nein, der Widerstand fiel schon früher (bei -269 °C, auch wenn Kamerlingh Onnes es noch nicht sonderlich genau messen konnte) auf Null, die Leitfähigkeit des Quecksilbers wurde unendlich.

Wir nennen dieses Phänomen Supraleitung und es war revolutionär. Damit hatte praktisch niemand gerechnet, zumal die Quantenmechanik, die diese Leitfähigkeit erklären kann, 1911 noch in ihren Kinderschuhen steckte.

Seit dieser Sensation haben Supraleiter eine ganze Reihe praktischer Anwendungen gefunden, vor allem in der Messtechnik. Ein Magnetresonanztomograph (MRT) arbeitet mit Supraleitern für seine starken Elektromagneten. Auch moderne Hirnsensoren, mit denen wir in Bereiche kommen, in denen wir Gefühle oder Gedankenschemata am Gehirn messen können, arbeiten mit Supraleitern als Messinstrument. Wir sind noch nicht soweit, einzelne Gedanken auslesen zu können, aber alles sieht danach aus, als sei dies eine reine Frage der Zeit.

Yuval Noah Harari führt diese Entwicklung als Beispiel dafür auf, wie unvorhersagbar wissenschaftlicher und technischer Fortschritt sind. Wenn Sie jemanden Anfang des 19. Jahrhunderts gefragt hätte: „Wie könnten wir Gedanken im Gehirn vermessen?“, dann hätten Sie niemals erraten: „Kein Problem. Schritt eins: Wir pressen ein paar Gase zusammen, bis sie flüssig werden.“

Sollten wir sie irgendwann erreichen, wird auch die zivile Nutzung der Kernfusion mit Supraleitern arbeiten, um das heiße Plasma einzudämmen.

Wie wichtig Heike Kamerlingh Onnes’ Forschung war, das war auch seinen Zeitgenossen bekannt. 1913 erhielt er hierfür den Physik-Nobelpreis.

Allgemein wurde er viel geehrt. Dies sieht man schon an der schieren Anzahl der Akademien der Wissenschaften, deren Mitglied er werden durfte. Den Anfang machte die Königlich Niederländische Akademie der Wissenschaften 1883. 1916 zog Großbritannien mit der Royal Society nach. (1921 kam übrigens noch die Royal Society of Edinburgh hinzu – wie sich herausstellt, hat Schottland seine eigene Akademie der Wissenschaften.) Frankreich wartete bis nach dem Ersten Weltkrieg und kam erst 1920 dazu, ihn in die Académie des sciences aufzunehmen. Im selben Jahr wurde er auch durch die US-amerikanische National Academy of Sciences geehrt. 1922 wurde Professor Kamerlingh Onnes dann korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1925 Mitglied der Leopoldina. Ebenfalls 1925 wurde er sogar korrespondierendes auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, obwohl die Sowjetunion ihre Wissenschaft damals immer weiter abschottete. (Übrigens ein Trend, den Stalin ab 1927 noch massiv verstärken sollte.)

1924 wurde Heike Kamerlingh Onnes 70 Jahre alt und wurde daher unter Protest in den Ruhestand geschickt. Doch ganz so leicht wurde man den fleißigen Forscher nicht los: Er arbeitete weiterhin gelegentlich im Labor. Nach kurzer Krankheit starb er am 21. Februar 1926 in Leiden.

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