Name: Justine Siegemund (auch: Justina Siegmund, Justina Sigmund, Justine Siegmund oder Justine Siegemundin)
Lebensdaten: 26. Dezember 1636 in Rohnstock (heute Polnisch: Roztoka) bis 10. November 1705 in Berlin
In aller Kürze: Justine Siegemund schaffte es, von einer Frau in einem kleinen Dorf zur Hebamme des Hochadels aufzusteigen. Ihre Expertise in der Geburtshilfe war so ausgeprägt, dass ihr Lehrbuch diese Medizin nachhaltig voranbrachte.
Im Detail: Justine Siegemund wurde am 26. Dezember 1636 unter dem Namen Justine Dietrich in Rohnstock geboren. Dieser erste Satz enthält sehr viel mehr Ungenauigkeit, als man denken mag. Zunächst einmal heißt der Ort heute nicht mehr so. Das kleine Dorf liegt in Niederschlesien und stand damit unter preußischer Herrschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Gebiete an Polen übergeben (strenggenommen erst 1990 finalisiert, aber lassen Sie uns nicht pedantisch werden), sodass Rohnstock heute Roztoka heißt. Ein kleines Dorf ist es trotzdem noch, mit heute ca. 1100 Einwohnen.
Das war aber nur die erste Ungenauigkeit. Außerdem waren damals die Namen und deren Schreibweisen nicht so fix wie heute. Justine wurde auch unter Justina geführt, ihren Geburtsnamen konnte man auch „Dittrich“ schreiben, ihren späteren Namen auch „Siegmund“ oder „Sigmund“. Außerdem war es damals Mode, die Namen von Frauen mit dem Suffix -in als weiblich zu betonen, besonders bei Autoren. (Vergleichen Sie dies mit slawischen Nachnamen, z. B. Koslowski vs. Koslowska.) Deshalb kam später auch noch „Siegemundin“ hinzu.
Diesen Namen trug Justine bereits, als sie in den Annalen relevant wurde. Sie war als Tochter des evangelischen Pfarrers Elias Dittrich zur Welt gekommen, nahm ihren späteren Namen jedoch an, als sie den Rentschreiber Christian Sieg(e)mund ehelichte. („Rentschreiber“ ist eine veraltete Bezeichnung für jemanden, der in der damaligen Version des Finanzamtes arbeitete.) Sowohl der Beruf ihres Vaters als auch der ihres Ehemannes waren solche, die sehr viel Schriftverkehr umfassten. So passt es, dass eine Frau aus einem winzigen Dorf im 17. Jahrhundert genug lese und schreiben konnte, um Sachbücher zu lesen und später ein Lehrbuch für Hebammen zu schreiben.
Dieses sollte erst viele Jahre später erscheinen und Justine Siegemunds Weg dorthin sollte ein langer und steiniger sein. Er begann mit dem Schicksalsschlag einer unfähigen Hebamme.
Als Menschen, die im modernen Gesundheitssystem aufgewachsen sind, fällt es uns schwer einzuordnen, wie katastrophal die Formulierung „unfähige Hebamme“ damals gewirkt hätte. Wie schon in anderen Artikeln bemerkt, waren damals die Säuglingssterblichkeit und die Müttersterblichkeit sehr hoch, sodass jede Geburt eine gefährliche Situation für beide war. Erschwerend kommt hinzu, dass in einem kontinentweiten System der Erbmonarchie die Frage, ob es einen Erben gab, das Schicksal ganzer Reiche bestimmen konnte.
Das macht Hebammen zu einigen der unbesungenen Heldinnen der Geschichte. Eine inkompetente Hebamme war damals ebenso gefährlich wie heute eine unfähige Rettungssanitäterin, ein Feuerwehrmann, der nicht löschen kann, oder eine grundlos gewaltbereite Polizistin.
Und mit genau so einer unfähigen Hebamme bekam es Justine Siegemund zu tun, als sie gerade 20 war. In diesem Alter durchlitt sie nämlich einen Gebärmuttervorfall, die sie fälschlich für eine Schwangerschaft hielt. Leider erkannte auch die gerufene Hebamme nicht, was für ein medizinisches Leiden vorlag. Dadurch musste Frau Siegemund große Schmerzen durchleiden und wurde vermutlich deshalb auch unfruchtbar – ihre Ehe sollte kinderlos bleiben.
Für die junge Frau war das ein massiver Schicksalsschlag. Schon heute ist unwillentlich keine Kinder bekommen zu können, eine massive psychische Belastung für viele betroffene Frauen, die häufig zu Depressionen führt. Und im 16. Jahrhundert war die Erwartungshaltung an und von Frauen, Kinder zu gebären, noch viel ausgeprägter als heute.
Motiviert durch die Erfahrung beschloss Justine Siegemund, sich selbst in die Geburtshilfe einzuarbeiten und eine bessere Hebamme zu werden. Dies tat sie autodidaktisch – wie genau, ist nicht überliefert, auch wenn ihr Verstand und ihre Fähigkeit, Fachbücher zu lesen, vermutlich sehr hilfreich waren. Fachbücher waren damals oft lateinisch, aber als Tochter eines Pfarrers las sie womöglich auch Latein, auch wenn die Protestanten darauf nicht viel Wert legten. Das ist jedoch reine Spekulation, vielleicht las sie nur solche auf Deutsch und erlernte das Hebammen-Handwerk vor allem durch Praxiserfahrung.
In jedem Falle wurde sie sehr erfolgreich als Geburtshelferin. Im Jahre 1670 wurde sie als Stadt-Wehemutter (also leitende Hebamme der Stadt) nach Liegnitz berufen. Das liegt circa 40 Kilometer von Rohnstock entfernt – auch damals keine Weltreise, aber schon eine merkliche Ortsveränderung. (Heute ist die Stadt polnisch und heißt Legnica. Sie haben von ihr womöglich im Geschichtsunterricht gehört, weil dort einer der wichtigsten Militärstützpunkte des Warschauer Pakts lag.)
Dreizehn Jahre später, 1683, konnte Justine Siegemund dann gar nach Berlin gehen und dort in den Dienst des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm eintreten. Ihr offizieller Titel war „Chur-Brandenburgische Hof-Wehemutter“, also die persönliche Chefhebamme der Hohenzoller, der Adelsfamilie, die über Brandenburg und Preußen herrschte.
Weil Adelige auch damals schon vielfältig untereinander verwandt waren, bereiste sie andere Höfe, um dort ihre hochgeschätzten Fähigkeiten in der Geburtshilfe einzusetzen. So war sie mehrfach in Zeitz (Sachsen-Anhalt), um dort Maria Amalia von Brandenburg, der Tochter ihres Förderers Friedrich Wilhelm, durch vier Geburten zu helfen. Auch in Dresden war sie als Hebamme des Hochadels geschätzt. Ihre Einsätze brachten sie gar bis Den Haag, um dort als Hebamme für Maria II. zu arbeiten, der späteren Königin von England.
Während all dieser Tätigkeiten hatte sie jede Menge Neider, allen voran männliche Ärzte, die einfach nicht ertragen konnten, wie gut Frau Siegemund war. Ihr wurde mehrfach Ärztepfusch vorgeworfen, doch ihre Leistungen sprachen für sie. Die etablierte Hebamme war einfach unbestreitbar brillant. Unter anderem hatte sie einen speziellen Handgriff entwickelt, um Babys in schwieriger Position in der Gebärmutter zu drehen – er heißt bis heute „Siegemundinscher Handgriff“.
Auf Anregung von Maria II. sammelte Justine Siegemund ihre jahrelange Erfahrung in einem Buch. Es trug den Titel Die Chur-Brandenburgische Hoff-Wehe-Mutter, das ist: ein höchst nöthiger Unterricht von schweren und unrecht stehenden Geburten, in einem Gespräch vorgestellt und wurde 1690 veröffentlicht. Das Werk war sehr einflussreich und wurde mehrfach neu aufgelegt, auch als die Autorin bereits verstorben war. Denn Justine Siegemund verstarb im Alter von 68 Jahren am 10. November 1705 in Berlin.
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