Name: Dr. Johanna Haarer (geb. Barsch, geschiedene Weese)
Lebensdaten: 3. Oktober 1900 in Bodenbach (heute Děčín, damals auch Tetschen) bis 30. April 1988 in München
In aller Kürze: Mit ihrem Erziehungsratgeber Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind schuf Dr. Johanna Haarer eine Art frühpädagogisches Manifest der Nazi-Ideologie – grausam, gefühlskalt und darauf ausgerichtet, das Kind zu einer gehorsamen Marionette zu machen.
Im Detail: Die Ideologie der Nationalsozialisten hatte den Anspruch, das Leben und Denken der Deutschen von Geburt bis zum Tode zu diktieren. Doch daraus ergab sich ein Problem, denn in genau dieser Ideologie war es fest verankert, die Erziehung kleiner Kinder wäre eine reine Frauenaufgabe. Also brauchte das Regime eine Frau, die als Galionsfigur die Menschenverachtung und Führertreue bis in die Wiege der kleinsten Kinder trug. Diese Aufgabe erfüllte Johanna Haarer.
Geboren wurde sie unter dem Namen Johanna Barsch am 3. Oktober 1900 in Bodenbach. Die Stadt gehört heute zu Děčín (damals noch Tetschen). Sie liegt mittlerweile in Tschechien und lag früher in Böhmen, was Teil von Österreich-Ungarn war. Auch wenn der örtliche Adel zumeist deutsch-österreichisch war, war die Gesamtbevölkerung eine enge Verflechtung aus Deutschen und Tschechen. Bodenbach liegt sogar im Sudentenland, welches 1938 in der Münchener Konferenz „heim ins Reich“ geholt wurde.
Bei dieser engen Verflechtung war es nichts Ungewöhnliches, dass Johannas Vater Deutscher und ihre Mutter Tschechin war. Mit Blick auf ihren späteren Lebensweg ist es dennoch recht heuchlerisch, dass eine zentrale Stütze der Nazi-Ideologie eine tschechische Mutter hatte, obwohl laut der nationalsozialistischen Rassenlehre Tschechen (wie alle Slawen) eine nieder Dienerrasse darstellen. Vielleicht erwarte ich aber auch zu viel Ehrlichkeit von einer völlig absurden Autokratie.
Johanna Barsch war also die Tochter eines Deutschen und einer Tschechin. Ihr Vater war Buchbindermeister, ihre Mutter Hausfrau. Sie hatte noch einen älteren Bruder, der jedoch tragisch jung im Alter von 10 Jahren verstarb.
Wie in Böhmen zu erwarten, war die Familie zunächst katholisch. Allerdings konvertierte die Barsch-Familie im Jahre 1905 zu Protestanten und wurden Mitglieder evangelisch-lutherischen Kirche. Lebenslang Christin blieb Johanna Barsch so oder so.
Obwohl Johanna nicht aus hohem Hause kam (dafür hätte sie in Österreich-Ungarn adelig sein müssen), verfügte ihr Vater als Buchbindermeister durchaus über einige Ressourcen. Da sie mit dem Tode ihres Bruders nun Einzelkind war, konnten ihre Eltern große Mengen an Kapital in die Ausbildung ihrer Tochter investieren.
Weil die junge Johanna Medizin studieren wollte, ging sie ab 1917 in Deutschland auf besondere Erziehungsheime, wo sie 1920 ihr Abitur erhielt. Das war zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn schon ziemlich schwierig, obwohl die beiden Reiche eng miteinander verbündet waren. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieg wurde die Habsburger Monarchie allerdings aufgelöst, womit Johanna Barsch sich plötzlich als Staatsbürgerin der Republik der Tschechoslowakei wiederfand.
Trotzdem konnte sie ihr Abitur in Deutschland ablegen und anschließend in Heidelberg Medizin studieren – beides für eine Frau damals selten und eine große Leistung. 1925 legte sie ihr Staatsexamen ab. Im nächsten Jahr erlangte sie ihre Approbation und ihren Doktorgrad.
Sie verließ jedoch nicht nur mit einem Titel die Universität, sondern auch mit einem anderen Nachnamen. Im Jahre 1924 hatte sie den Arzt Hellmut Weese geheiratet. Die Ehe hatte aber keinen Bestand. Sie wurde schon 1929 wieder geschieden.
Daraufhin arbeitete Dr. Johanna (jetzt vorerst) Weese in München als Assistenzärztin. 1932 heiratete sie dann wieder einen Arzt – den Oberarzt Otto Haarer. Damit trug sie den Namen, unter welchem sie einflussreich wurde. Allerdings schied Frau Doktor Haarer jetzt auch aus dem Berufsleben aus. Als das Paar 1933 Zwillinge bekam, wurde Johanna Haarer zunächst einmal Hausfrau und Vollzeitmutter. Über die nächsten Jahre sollte sie noch drei weitere Kinder zur Welt bringen und war damit dauerhaft aus ihrem Hauptberuf ausgeschieden.
Um ein Nebeneinkommen einzubringen, begann die junge Mutter damit, Kolumnen über Säuglingspflege zu verfassen. Dies war für Dr. Haarer nicht bloß eine Einnahmequelle. Für die medizinische Seite dieses Themas war sie durchaus Expertin als hoch ausgebildete Ärztin. Und sie konnte junge Mütter wertvoll beraten.
Ihre Kolumnen umfassten jedoch auch die Früherziehung, wo sie gefährlich uninformiert und ideologisch war. Obwohl sie keine nennenswerte Qualifikation in diesem Bereich vorzuweisen hatte, fühlte sich Haarer offenbar geradezu dazu berufen, ihre vermeintlichen Weisheiten auch in der Frühpädagogik zu teilen.
Der wirtschaftliche Erfolg gab ihr leider Recht, sodass Haarer schon im Folgejahr ihren ersten Ratgeber veröffentlichte: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind.
Und dieses Buch hat es in sich. Selbst für die damalige Zeit ist die Botschaft des Werkes unfassbar schädlich und herzlos – es könnte genauso gut heißen Wie man sein Kind zum Soziopathen macht. Während der Teil zur körperlichen Pflege (bspw. Wickeln) solide ist, ist die emotionale Pflege und das Aufbauen der Bindung zu dem Neugeborenen sogar für die damaligen Verhältnisse grausam. Jede Form von Körperkontakt sollte minimiert werden. Das Baby sollte nach Möglichkeit stundenlang alleingelassen werden. Das Ergebnis kann leicht ein gefühlskalter, neurotischer, obrigkeitshöriger Mensch sein, zu dem das Kind dann erwächst. Zumindest wird es unter dieser Erziehung sehr zu leiden haben.
Wie viele Mütter dieses Ideal wirklich so umsetzten, ist eine andere Frage. Aber zumindest ein ganzes Stück weit werden sie es versucht haben, denn der Zuspruch der deutschen Öffentlichkeit für den Ratgeber war außerordentlich. Die erste Auslegung dieser Tatsache mag sein, dass das Nazi-Regime solche Marionetten als Bürger sehr schätzte. Auch dass in dem Erziehungsratgeber dem Vater keinerlei Erziehungsrolle zukam, passte sehr in das Rollenbild im Dritten Reich. Deshalb wurde der Ratgeber von der NS-Propaganda auch gefeiert.
Das war sicher auch ein Grund für den Erfolg, aber nicht der einzige. Wir sollten nicht unterschätzen, wie sehr diese Ideologie dem allgemeinen Zeitgeist in Deutschland (und großen Teilen Europas) entsprach. Der Nationalsozialismus fiel schließlich nicht vom Himmel. Und die Vorstellung war weitverbreitet, das Kind (vor allem im Falle von Jungen) müssen abgehärtet und sein Wille gebrochen werden, um dem militaristischen Ideal zu entsprechen, welches das Ende des Kaiserreichs traurig gut überstanden hatte.
Dr. Haarers Erfolg lag also zunächst einmal an einem ungesunden Zeitgeist, welcher von der NS-Propaganda aktiv gefördert wurde. Dazu kam aber auch die Tatsache, dass Johanna Haarers Hintergrund in der Medizin lag. Die hygienischen Empfehlungen der Ärztin waren daher durchaus lobenswert – damit konnte die Gesundheit der Babys tatsächlich merklich verbessert werden.
Und diese Kompetenz im Bereich der körperlichen Pflege verlieh auch den Erziehungsempfehlungen Haarers eine Glaubwürdigkeit, die sie definitiv nicht verdienten. Zusammen mit der kulturell geprägten Erwartungshaltung der Mutter und der nationalsozialistischen Propaganda entfaltete Dr. Haarers Buch eine enorme Wirkmacht in Deutschland.
Der Autorin gefiel dieser Erfolg sehr. Schon 1936 erschien ihr zweiter Ratgeber Unsere kleinen Kinder. Weitere drei Jahre später biederte sich Haarer dem Regime noch direkter an und veröffentliche das Kinderbuch Mutter, erzähl’ von Adolf Hitler! Mit diesem Vorlesebuch sollte den Kindern nicht einfach nur vermittelt werden, wie toll Hitler wäre, sondern auch wie abgrundtief böse Juden wären.
Auch politisch war Haarer in das Regime eingebunden. 1937 trat sie der NSDAP bei. Zwischenzeitig hatte sie das Amt der Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen der NS-Frauenschaft in München inne. Auch während des Krieges schrieb sie weiter, vor allem Zeitungsartikel.
Damit war Dr. Johanna Haarer eine zentrale Stütze im Nazi-Staat. Bezeichnend für die Rolle der Frau in der Ideologie des Nationalsozialismus ist es, dass sie trotzdem nicht zu einer Persönlichkeit der Öffentlichkeit wurde. Beispielsweise gibt es nur wenige öffentliche Fotos von der Autorin.
Die Obskurität konnte Dr. Haarer jedoch nicht komplett vor Konsequenzen schützen. Praktisch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ihre Bücher verboten. Außerdem kam sie für ein Jahr ins Gefängnis. 1946 nahm sich ihr Ehemann Otto das Leben. Damit waren die Folgen für die Autorin aber auch schon durchgestanden.
Das weitere Schicksal von Dr. Johanna Haarer und ihrer Schriften ist nämlich symptomatisch dafür, wie langsam Deutschland die Ideologie der Nationalsozialisten ablegte. Und auch, wie der Nazi-Staat eben kein Zufall war, sondern sowohl vor 1933 als auch nach 1945 viele kulturellen Prägungen verbreitet waren, die diese faschistische Herrschaft hervorgebracht hatten.
Denn direkt in den Nachkriegsjahren kam Dr. Haarers Ratgeber unter dem Titel Die Mutter und ihr erstes Kind wieder auf den Markt. Das Werk hatte Haarer (mit Hilfe einer ihrer Töchter) auf bezeichnende Weise überarbeitet: Die direkte Symbolik des Nationalsozialismus wurde entfernt, aber das Buch propagierte die dahinterstehenden Botschaften und Vorstellungen unverändert.
Die selbsternannte Erziehungsexpertin konnte also weiter ihren Einfluss geltend machen. Überhaupt machte sie weiterhin Karriere. Zwar durfte sie nicht wieder als Ärztin arbeiten, veröffentlichte jedoch weiterhin Bücher und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung 1965 in Gesundheitsämtern. Hier wurde also eine wichtige Ideologin des NS-Staates nicht nur weiterhin gelesen, sie bekam sogar Entgelt aus Steuergeldern. In dieser Hinsicht war Dr. Johanna Haarer ein trauriges Beispiel dafür, dass die eigentliche Aufarbeitung des Dritten Reiches erst in den 1960ern an Fahrt aufnahm. Bei Dr. Haarer kam diese Botschaft nie an. Laut ihrer Kinder war sie bis zu ihrem Tode am 30. April 1988 in München überzeugte Nationalsozialistin. Nach ihrem Ableben traten diese Kinder an die Öffentlichkeit und berichteten untern anderem, wie sehr sie unter der Gefühlskälte ihrer Mutter leiden hatten müssen. Ein klares Urteil über die Schädlichkeit von Dr. Haarers Ideen – der Frühpädagogin der Nazis.
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