Lektionen aus 100 Beiträgen

Dies ist der 100. Beitrag auf diesem Blog. (Streng genommen der 106., aber sechs Beiträge hatten keinen neuen Inhalt, sondern waren bspw. Aufrufe, mitzuarbeiten.) Daher habe ich beschlossen, das sei ein guter Moment, aufzuschreiben, was ich aus 100 Artikeln mitgenommen habe. (Und niemand kann mich hier überstimmen, weil ich den Blog alleine schreibe. Sie dürfen das gerne ändern und mitarbeiten!)

Hier also Lektionen aus 100 Beiträgen:

Lektion 1: Prominenz in unserer Gesellschaft ist völlig absurd.

Wir leben in einem Land, in dem Forscher an neuen Krebsmedikamenten arbeiten, Wissenschaftler die tiefsten Geheimnisse des Universums untersuchen, Ingenieure neue, revolutionäre Technik entwickeln, Philosophen neue ethische Fragen beantworten; in dem Feuerwehrleute in brennende Häuser rennen, um Eingeschlossene zu befreien, in dem Ärzte, Krankenpfleger, Sanitäter jeden Tag Leben retten; in dem Handwerker Wohnstätten errichten und pflegen, Landwirte Essen für uns alle produzieren – und wir jubeln Leuten zu, deren Fähigkeit darin besteht, einen Ball durch ein großes Rechteck zu treten, oder besonders gut zu singen oder zu schauspielern, oder ihre weiblichen Brüste gut in Szene zu setzen.

Und dann ist die Öffentlichkeit sogar noch empört, wenn diese Prominenten, die weder für ihre Intelligenz noch für ihre moralische Aufrichtigkeit ausgewählt wurden, sich daneben benehmen.

Ich startete dieses Projekt schon mit dieser Annahme – das war eine der Motivationen dahinter. Und ich wurde in jeder Hinsicht mehr als bestätigt. Tatsächlich muss ich darauf achten, nicht zu frustriert darüber zu werden. Nicht alle Unprominenten in diesem Blog haben die Welt verbesserte, aber genügend, dass ich mit jedem solcher Artikel mehr darüber verzweifle, wie völlig degeneriert unsere Gesellschaft ist, wenn es darum geht, welche Leute wir feiern.

Lektion 2: Die hohe Taktung geht nur durch Vorwissen.

Ich wurde schon mehrfach gefragt, wie ich als Vollzeitarbeitnehmer und aktiver Familienvater neben weiteren Hobbys einen Artikel pro zwei Wochen schaffe (na ja, meistens schaffe ich das). Der Grund ist recht banal: Ich beschränke mich vor allem auf Artikel zu Leuten, von denen ich eh schon einiges weiß. Würde ich jeden von Null recherchieren, hätte ich keine Chance. Gelegentlich ist das Leben etwas ruhiger und dann gehe ich einen Unprominente an, mit dem ich mich nur vage auskenne. Aber das ist doch eher die Ausnahme.

Das bedeutet aber auch, dass der Pool der Personen, die auf diesem Blog angepriesen werden, sich weitestgehend beschränkt auf Leute aus meiner Fachrichtung (Naturwissenschaften) und Leute, von denen ich zufälligerweise weiß. (Ich befasse mich schon länger mit Unprominenten.) Deshalb täte es der Vielfalt auf diesem Blog sehr gut, weitere Autoren zu finden.

Dieser Begrenzung führt aber auch zur nächsten Lektion:

Lektion 3: Aktuelle Personen sind nur schwer zu schildern.

Je näher an der Jetztzeit das Wirken einer unprominenten Person ist, desto schwieriger ist es, einen Artikel zu ihr zu schreiben.

Das beginnt mit dem Problem, dass es selten gemeinfreie Bilder von diesen Leuten gibt. Außerdem schreibe ich eben primär zu Leuten, zu denen ich im Laufe meines Lebens Hintergrundwissen passiv mitgenommen habe. Je aktueller das unprominente Wirken desto geringer die Chancen, dass ich davon mitbekam.

Des Weiteren können aktuelle Unprominente aus Gründen interessant sein, die in hundert Jahren jede Bedeutung werden verloren haben. Solche Leute gab es auch vor hundert Jahren schon und über sie möchte ich eh nicht schreiben. Diejenigen, die dauerhaft bedeutend blieben, wurden von der Geschichtsforschung zumindest etwas aufgearbeitet. Bei aktuellen Unprominenten ist das nicht immer der Fall. Bspw. möchte ich gerne einen Eintrag schreiben zu Achim Held, dem Erfinder der Bielefeldverschwörung. Leider gibt es zwar Unmengen Artikel zu diesem Running Gag, aber praktisch keine Details zu seinem Leben. (Sollte einer meiner Leser ihn zufällig persönlich kennen, dann freue ich mich über eine Kontaktaufnahme. Ich möchte nicht bloß über diesen einen Scherz schreiben, sondern interessiere mich dafür, was das für ein Mensch ist.)

Außerdem wird die Welt immer komplexer – moderne Prozesse sind vielschichtig, aktuelle Forschung hochspeziell und oft das Werk dutzender Forscher. So komplizierte Dinge kann ich in meinem Zeitrahmen nicht aufschlüsseln.

Das ist besonders schade, weil ich damit mehr Frauen feiern könnte.

Lektion 4: Frauen wurden immer benachteiligt, auch wenn es besser wird.

Ich hatte ursprünglich die Absicht, abwechselnd Männer und Frauen vorzustellen. Diesen Plan musste ich rasch fallenlassen. Frauen wurden einfach über die gesamte Geschichte benachteiligt und hatten daher geringere Chancen, etwas Bedeutendes oder auch nur Spannendes zu vollbringen. Wenn man dann doch eine findet, konnten sie oft nur durch besondere Hilfe von Männern Erfolg haben – bspw. Agnes Pockels durch ihren Bruder oder Chien-Shiung Wu durch ihren Vater.

Ein Stück weit liegt das auch daran, dass Männer allgemein mehr zu Extremen neigen. So jemand wie Gavrilo Princip war natürlich ein Mann. Aber es ist merklich, dass der Hauptgrund Diskriminierung war, weil es langsam aber sicher besser wird. Apropos:

Lektion 5: Fortschritt ist ein revolutionäres Konzept.

Als Edward Jenner herausfand, dass man die schlimmste Seuche der Geschichte bekämpfen konnte, hatten das vor ihm schon andere bemerkt. Und mit dieser Erkenntnis gar nichts gemacht. Erst Jenner setzte sich für umfassende Impfkampagnen ein. Ähnliches sahen wir bei James Lind. Die Vorstellung, man könne mit Wissen die Welt besser machen, war einfach noch nicht Teil der allgemeinen Denkweise.

Wir sehen das heute anders. Unsere Kultur ist durchzogen von einem Konzept von Fortschritt und von einer Erwartungshaltung des Fortschritts. Damit haben wir auch schlichtweg Recht. Vergleichen Sie allein die Kindersterblichkeit von früher mit heute.

Wegen dieser Erfolge vergessen wir leicht, wie unoffensichtlich Menschen das Prinzip Fortschritt eigentlich finden. Die Westliche Zivilisation ist die erste der Menschheitsgeschichte, die ein Konzept von Fortschritt aufweist. Sämtliche anderen Gesellschaften dachten entweder, die Welt bliebe gleich gut – Reiche und Personen mochten steigen und fallen, aber die Welt als Ganzes wäre immer so, wie sie schon immer gewesen wäre. Oder sie glaubten, die Welt würde immer schlechter – es hätte ein goldenes Zeitalter in der Vergangenheit gegeben und nun fiele es immer weiter ab.

Deshalb dauerte es auch eine ganze Weile, bis dem Großteil der Menschen im Westen das in Fleisch und Blut überging. Zwischen der Erfindung der Dampfmaschine (1. Jahrhundert durch Heron von Alexandria) bis zu ihrer industriellen Nutzung vergingen ca. 1700 Jahre. Von der Entdeckung der Kernspaltung bis zum ersten Kernreaktor mussten bloß vier Jahre ins Land gehen.

Lektion 6: Unprominente.de ist ein guter Finder für Filterblasen.

Ich bekomme regelmäßig die Rückmeldung: „Die meisten Leute kannte ich tatsächlich nicht, aber Person X kennt doch wirklich jeder!“ Nur dass Person X jedes Mal eine andere ist.

Die größte Filterblase bzgl. Unprominenz ist naturgemäß die berufliche Spezialisierung – alle Physiker kennen Lise Meitner, alle Informatiker Margaret Hamilton usw.

Sie ist allerdings dicht gefolgt vom Alter. Der Hauptmann von Köpenick ist bei jungen Leuten praktisch unbekannt, wogegen die meisten Bundesbürger über 50 genau wissen, wer das war. Auch Johanna Haarer war früher sehr viel berüchtigter, sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, weil ihre Ideen so schädlich waren und bleiben.

Ein paar Höhepunkte und Tiefpunkte zum Schluss

Die Unprominente, die mich persönlich am meisten beeindruckt, ist weiterhin Emmy Noether. Was die herausfand, geht weiterhin über meinen Verstand. Und sich dann als Frau durchzukämpfen und David Hilbert zu beeindrucken…

Der Artikel, den ich persönlich am liebsten mag, ist vermutlich Wolfgang von Kempelen wegen der Bedeutung seines Schachtürken für meine Weltanschauung. Dicht gefolgt allerdings von Thomas Hobbes und Stella Liebeck.

Der Artikel, zu dem ich die meisten Rückmeldungen bekam, ist mit Abstand Karl-Adolf Schlitt, der sein U-Boot durch Falschverwendung der Toilette versenkte. Die meisten dieser Kritik ist negativ und kommt von Leuten, die sich bemühen, den Ruf eines Wehrmachtsoffiziers zu bewahren. Teilweise drohte man mir sogar mir Klage, als hätte man vor irgendeinem deutschen Gericht Chance, die Ehre eines Mannes zu verteidigen, welcher freiwillig der Wehrmacht beitrat. Es wird dadurch noch erschwert, dass Schlitt später „subtil“ andeutete, er hätte seinen Fehler mit Absicht gemacht, um Fahnenflucht zu betreiben. Überraschend viele Leute glauben dieser Ausrede, die ich als Chemiker sofort unplausibel finde. Schlitt kannte sich gut genug mit U-Booten aus, um zu wissen, dass bei dieser Aktion Chlorgas entstehen muss. Und als Wehrmachtsoffizier wusste er auch, wie giftig Chlorgas ist, weil es im Ersten Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt worden war. Es war riesiges Glück, dass bei Schlitts angeblichen Fahnenflucht „nur“ vier Männer ums Leben kamen. Da ist es viel plausibler, dass Schlitt arrogant und/oder unaufmerksam war, als dass er einen vorsichtigen Plan ausgeheckt hatte. (Zumal er damit den Tod seiner Untergebenen billigend in Kauf genommen hätte, weswegen ich eh nicht verstehe, warum diese Auslegung zur Ehrenrettung Schlitts aufgeführt wird.)

Aber zu angenehmeren Dingen: Der Unprominente, der mich bei der Recherche am meisten überraschte, war ohne Frage Alfred Wegener. Ich hatte eigentlich vor, einen Artikel zu schreiben dazu, wie ihm ursprünglich nicht geglaubt wurde. Wie das aber auch nicht nur an der Verweigerung der Wissenschaftler lag, sondern an dem Mangel an Belegen, die er vorweisen konnte. (Ähnlich wie Galileo ist Wegener einer der Helden der Schwurbler, die sich als von der Wissenschaft böse ignoriert sehen. Sie verstehen einfach nicht die Wichtigkeit von Belegen in der Naturwissenschaft.) Der Text, der am Ende herausgekommen ist, enthält dieses Element auch. Aber es wird etwas überstrahlt davon, dass Wegener offenbar keinerlei Selbsterhaltungstrieb hatte und sein Tod ein der Eiswüste Grönlands wirklich niemanden überraschen sollte.

Der Artikel, der mit Abstand die meiste Recherche kostete, war jener zur Sophie von der Pfalz, der Urahnin des britischen Königshauses. Ich interessiere mich nicht groß für Adelige und hatte daher nur eine vage Ahnung und jede Mengen Fragen: Warum wählt man sich eine Adelige aus Deutschland und nicht bspw. Dänemark? Wieso bestand überhaupt ein Mangel an Thronerben? Wer war hier wie mit wem verwandt? Wie inzestös ist dieser Stammbaum eigentlich? Und warum zur Hölle hießen die alle James?!! – Wahrscheinlich geht ein Drittel meiner grauen Haare auf diesen Artikel zurück.

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