Name: Prof. Dr. Elise Meitner
Auch bekannt als: „die deutsche Marie Curie“ (laut Albert Einstein)
Lebensdaten: 7. November 1878 in Wien bis 27. Oktober 1968 in Cambridge
In aller Kürze: Lise Meitner war eine hochbegabte Physikerin, die sich an den Universitäten durchkämpfen musste, weil sie eine Frau und judenstämmig war. Ihren wichtigsten Beitrag leistete sie im Exil in Stockholm, nachdem sie von den Nazis hatte fliehen müssen: Sie entschlüsselte die Kernspaltung.
Im Detail: Im Jahre 1878 kam in Wien eine Frau zur Welt, deren Beiträge zur Kernphysik derart beeindruckend sein würden, dass Albert Einstein sie als „die deutsche Marie Curie“ bezeichnen sollte: Elise „Lise“ Meitner.
Am 7. November erblickte diese in der Hauptstadt Österreich-Ungarns das Licht der Welt. (Meitner selbst gab stets den 7. November als ihren Geburtstag an. Das Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Wiens verzeichnet jedoch den 17. November. Vermutlich handelt es sich um einen Schreibfehler in den Akten.)
Lise Meitner war das dritte der acht Kindern des jüdischen Rechtsanwaltes Philipp Meitner und seiner Frau Hedwig Meitner-Skovran – sie hatte zwei ältere Schwestern und sollte noch zwei jüngere Brüder und zwei jüngere Schwestern bekommen. Wie alle Kinder der Familie wurde Lise nominell jüdisch erzogen, sollte aber mit 29 Jahren das Judentum verlassen und dem Christentum beitreten. Der erste Teil davon kam wenig überraschend, denn schon während ihrer Kindheit versuchte sich die Familie Meitner, sich vom Judaismus zu distanzieren. Anders als bspw. im Falle von Karl Landsteiner war dies wohl nur teilweise eine Reaktion auf Verfolgung. Späteren Aussagen zufolge wollten die Eltern mit Religion im Allgemeinen nichts zu tun haben. Dass Lise Meitner hingegen nicht bloß das Judentum verließ, sondern sich direkt christlich taufen ließ, könnte sehr wohl dem Bedürfnis nach Sicherheit vor dem Antisemitismus geschuldet sein. Vielleicht war das der Grund, warum sie nicht bloß aus einer Religionsgemeinschaft austrat, sondern einer anderen beitrat. Oder sie kam ehrlich zu dem Schluss, das Christum sei die wahre Religion. Es lässt sich heute kaum beurteilen.
Typisch für die jüdische Kultur zu dieser Zeit war Bildung von Anfang an ein hochgehaltener Aspekt der Meitner‘schen Kindererziehung. Alle acht Kinder wurden in Musik unterrichtet und lernten von der Mutter Klavier zu spielen. In ihren Interessensgebieten wurden sie von Privatlehrern geschult. So begeisterte sich Lise Meitner von Kindesbeinen an sehr für Mathematik und wurde von ihren Eltern und Tutoren stark darin gefördert.
Meitners Diskriminierung aufgrund ihrer jüdischen Herkunft blieb leider nicht ihre einzige Hürde. Dazu gesellte sich schon in ihrer Schulbildung eine systematische Benachteiligung von Frauen und Mädchen in Österreich-Ungarn. So waren Mädchen auf Gymnasien nicht willkommen und Lise Meitner musste trotz herausragender Begabung eine Bürgerschule besuchen.
Ihr Weg an die Universitäten war daher ein indirekter. Zunächst legte Meitner ihr Examen als Französischlehrerin ab. (Beachten Sie die Analogie zu Emmy Noether, die ebenfalls ein mathematisches Genie war, aber aufgrund von Diskriminierung und blödsinnigen Erwartungen der Gesellschaft zuerst Sprachlehrerin wurde.) Obwohl sie nicht auf das Gymnasium gehen durfte, war es einer Frau immerhin möglich, sich zur Maturaprüfung anzumelden. Darauf musste Meitner sich neben ihrer Berufstätigkeit im Selbststudium vorbereiten. Im Alter von 22 Jahren schaffte sie diese Prüfung und erlangte ihre allgemeine Hochschulreife.
Im selben Jahr konnte sie damit endlich ihr Studium aufnehmen. An der Universität Wien studierte sie Physik, Mathematik und Philosophie. Bereits früh in ihrem Studium beschäftigte sich Meitner mit Radioaktivität. Für ihre spätere Bedeutung in der Kernphysik war dies wohl ein erster Anstoß aber kein richtungsweisender Moment, entwickelte sich ihr Werdegang doch zunächst in die Thermodynamik. Ihre Doktorarbeit verfasste sie über die Wärmeleitung in inhomogenen Körpern. Als zweite Frau überhaupt konnte sie an der Universität Wien die Doktorwürde im Hauptfach Physik erwerben. Ab 1906, mit 27 Jahren, durfte sie diesen Titel tragen.
Damit war ihr ein enormer Schritt gelungen für eine Frau ihrer Epoche und ihres Wohnortes. Heute bringt einem die Doktorwürde auch ein gewisses Maß an Respekt ein, aber das ist kaum vergleichbar mit dem Ansehen, das man damit im späten Österreich-Ungarn genoss. Die Habsburgermonarchie mit ihrer Vielzahl von Adelstiteln (vgl. Wolfgang von Kempelen) sah auch akademische Titel als sehr ehrwürdig an. Eine Frau Dr. Elise Meitner hatte es weit gebracht.
Erst mit ihrem Doktortitel in der Tasche entwickelte sich die begabte Physikerin in Richtung der Teilchenphysik. Sie bewarb sie bei Marie Curie, jedoch leider ohne Erfolg, sodass sie noch ein Jahr weiter an ihrer Alma Mater in Wien tätig war.
Im nächsten Jahr, 1907, ging Meitner nach Berlin. Das tat sie wohl vor allem aus akademischem Interesse. Allen Berichten zufolge hatte sie nicht die Hoffnung, in der Hauptstadt des Deutschen Reichs groß Karriere zu machen, sie wollte vor allem Vorlesungen bei Max Planck hören, einem der Begründer der Quantenphysik. In Berlin lernte sie auch den Chemiker Otto Hahn kennen, mit dem sie über Jahrzehnte eng befreundet sein würde und welcher später die Kernspaltung entdecken sollte.
Otto Hahn und Lise Meitner bildeten so etwas wie ein Forschungs-Dream-Team (der Mann hinter Meitner im Titelbild ist Hahn). Die beiden durften mit großem Erfolg in Plancks Arbeitsraum forschen. Otto Hahn hatte wenig Ahnung von Physik, konnte aber sehr reine Proben herstellen und genau vermessen. Lise Meitner kannte sich kaum mit chemischer Praxis aus, steuerte dafür die theoretische Physik bei.
Eine berühmte Anekdote besagt, Lise Meitner hätte öfter zu Hahn gesagt: „Hähnchen, lass mich das machen, von Physik verstehst du nichts.“
Das Ganze war wirklich nur eine Tätigkeit für Überzeugungstäter. Dass Planck sie einlud, spricht für die Qualifikationen der beiden. Aber er konnte sie nicht bezahlen und wären Meitner und Hahn nicht Forscher aus Leidenschaft gewesen, hätten sie mit ihren Fähigkeiten sehr lukrative Anstellungen finden können. Außerdem war „Plancks Arbeitsraum“ nicht etwa ein gut ausgestattetes Labor, sondern eine umfunktionierte Holzwerkstatt. Für Lise Meitner war die Sache sogar noch schlimmer. Wieder einmal musste sie mit Diskriminierung kämpfen: Frauen durften damals in Preußen nicht studieren, sodass sie das Gebäude stets durch die Hintertür betreten musste und in die Hörsäle und Laboratorien der Studenten keinen Einlass hatte. Das sollte sich erst 1909 ändern, als Frauen in Preußen offiziell zum Studium zugelassen wurden.
Die Arbeitsbedingungen lagen also irgendwo zwischen schwierig und erniedrigend. Umso beeindruckender sind die Ergebnisse, die Hahn und Meitner vorzuweisen hatten. Der Chemiker Hahn hatte 1909 den sogenannten radioaktiven Rückstoß entdeckt, eine neue Messmethode, um bisher unbekannte radioaktive Isotope zu finden. Auf Grundlage dieser Messdaten konnte die theoretische Physikerin mehrere Entdeckungen von radioaktiven Isotopen verkünden, sowie das Element Proactinium.
Die Arbeitsbedingungen des Duos verbesserten sich 1912 deutlich, als sie in das frisch eröffnete Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie ziehen und die Forschungsabteilung Radioaktivität mitbegründen konnten. Ab 1913 wurde Lise Meitner sogar endlich angestellt und für ihre wichtigen Beiträge vergütet.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im folgenden Jahr zeigte sich auch eine fragwürdige Seite des Duos. So wirkte Otto Hahn an der Entwicklung chemischer Waffen mit, die Fritz Haber eingeleitet hatte. Und Lise Meitner schickte ihm ein Glückwunschschreiben nach dem ersten erfolgreichen Einsatz an der Westfront. Meitner selbst ließ sich als Krankenschwester ausbilden und ging für Österreich-Ungarn an die Ostfront, wenn auch nur von 1915 bis 1916. Die beiden hatten offenbar wenig Schmerzen mit Massenvernichtungswaffen. Oder sie waren einfach Patrioten, die im Krieg zu Deutschland und Österreich-Ungarn hielten. Letztere Option wird noch düster absurd wirken, wenn wir dazu kommen, wie die Nazis mit Meitner umgehen würden.
Ab 1916 ging Lise Meitner wieder nach Berlin und entdeckte 1917 unter anderem das Element Proactinium zusammen mit Otto Hahn. (In einer seltsamen Form von Vorankündigung steht Proactinium im Periodensystem direkt von Uran.) Im Jahre 1918 erhielt Meitner endlich eine wohlverdiente Beförderung und wurde Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts. 1922 legte sie ihre Habilitation ab und wurde 1926 zurecht zur Professorin ernannt und lehrte an der Universität Berlin. Lise Meitner war in ihrer Traumposition als Wissenschaftlerin angekommen.
Doch der Schicksalsschlag kam mit der Machtübernahme der Nazis 1933. Zunächst hatte Meitner geglaubt, Hitler würde nicht so beißen, wie er bellte, und seine Politik wäre nicht so radikal, wie er sich immer gab. Von dieser Illusion wurde sie bereits im April 1933 befreit: Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft wurde sie an der Berliner Universität entlassen und ihr wurde die Lehrerlaubnis entzogen. Man beachte dazu, dass Meitner da schon seit über 25 Jahren Christin war. Aber in der pseudowissenschaftlichen Rassenlehre der Nationalsozialisten war Judentum keine Religionsgemeinschaft, sondern eine genetische Eigenschaft. Laut Hitler war Meitner von Geburt an lebensunwertes Leben. Nur am Kaiser-Wilhelm-Institut konnte sie zunächst weiterarbeiten, weil dieses nicht staatlich war.
Die zunehmende Verfolgung der Juden und Judenstämmigen in den nächsten Jahren konnte die Physikerin noch durchstehen. Sie wurde auch durch ihre österreichische Staatsbürgerschaft geschützt, wodurch sie ausländische Staatsangehörige war. Das änderte sich jedoch mit dem Anschluss Österreichs 1938, womit Lise Meitner plötzlich massiv gefährdet war.
Im Juli 1938 floh sie über die Niederlande und Dänemark nach Schweden, wo sie bis 1946 am Nobel-Institut in Stockholm arbeiten sollte. Mit Otto Hahn blieb sich jedoch im ständigen Briefwechsel, wodurch sie im Exil seine wichtigste Entdeckung vervollständigen konnte: die Kernspaltung.
Hahn hatte zusammen mit seinem Assistenten Fritz Straßmann beobachten können, wie Urankerne gespalten werden. Zumindest vermutete er das, sicher war er sich nicht, weil Hahn von Physik eben wenig verstand. Anstatt irgendjemanden an seinem Institut ins Vertrauen zu ziehen, schrieb er seiner alten Kollegin. So erfuhr eine Physikerin im schwedischen Exil als dritte Person davon, dass man Urankerne spalten kann.
Man könnte gar behaupten, sie wäre die erste gewesen, die dies umfassend begriff. Denn Lise Meitner konnte Hahns Messungen nicht nur durch einen physikalisch theoretischen Unterbau validieren. Ihre Rechnungen zeigten auch auf, was für enorme Energiemengen dabei freiwerden mussten. Otto Hahn hatte diesen Prozess noch naiv als „Zerplatzen“ des Urankerns bezeichnet – eine recht putzige Bezeichnung für einen Mechanismus, der genug Energie freisetzt, um ganze Städte zu vernichten. Erst Meitners Arbeiten ordneten Hahns Entdeckung richtig ein und ihr Neffe Otto Frisch, mit welchem sie den Artikel 1939 veröffentlichte, prägte den passenderen Begriff „Kernspaltung“. (Otto Frisch war noch ein genialer Physiker, der auf der Flucht vor den Nationalsozialisten Deutschland verlassen hatte – allerdings schon 1933. Er wurde Teil der Veröffentlichung, weil er seine Tante Lise während der Weihnachtsferien 1938 besucht hatte und an einem Teil des Artikel mitwirkte.)
Die Entdeckung von Otto Hahn wurde also von einer jüdischen Forscherin im Exil vervollständigt. Und damit ist Meitner geradezu ein Symbolbild für das Scheitern der nationalsozialistischen Rassenideologie. So sehr sich die Nazis gerne als fortschrittlich und wissenschaftlich darstellten, so idiotisch verjagten oder verfolgten sie eben jene Wissenschaftler, die Deutschland stark machten. Das häufig aufgebauschte deutsche Kernwaffenprogramm, so wissen wir heute, war Jahre davon entfernt, irgendwelche nutzbaren Resultate hervorzubringen, weil große Teile der Kompetenz aus dem Land gejagt worden waren. Wäre Hitler nie an die Macht gekommen und wäre diese Expertise im Land geblieben, so hätte Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit die erste Atombombe bauen können. (Zusammen mit Wernher von Brauns Raketenforschung auch die erste Atomrakete.) Lise Meitner ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, dass der Aufstieg Deutschlands zur führenden Supermacht nicht 1943 in Stalingrad verhindert wurde, sondern 1933 in Berlin.
Dennoch sollten wir uns hüten, den Rest der damaligen Welt im Kontrast zu rosig zu sehen. So wurde Meitner hier zwar nicht verfolgt, aber als Frau dennoch weniger ernst genommen. Als Otto Hahn 1944 den Nobelpreis für die Kernspaltung erhielt, wurde der treibende Verstand dahinter mit keinem Wort erwähnt. Das ist geradezu doppelt ironisch, weil Lise Meitner weiterhin in Stockholm arbeitete, wo der Preis verliehen wird. Auch in späteren Jahren, in welchen die geniale Physikerin immer wieder für diese Ehrung vorgeschlagen wurde (nicht zuletzt von Otto Hahn selbst), würde sie ihr nie zuteil.
Womöglich lag das auch ein Stück weit daran, dass sie weiterhin in Stockholm wohnte. Meitner war mehrfach von den USA aufgefordert worden, über den Atlantik zu kommen und sich an der Entwicklung der Atombombe zu beteiligen. Anders als im Ersten Weltkrieg war sie nun zur überzeugten Pazifistin geworden und lehnte jedes Mal ab. Wir mögen das heute lobenswert finden, aber im vom Dritten Reich zum Vasallenstaat gemachten Schweden stieß es vermutlich auf wenig Gegenliebe, den Amerikaner nicht bei der Entwicklung einer Wunderwaffe gegen die Achsenmächte zu helfen.
Erst ab 1946 ging sie in die USA, wenn auch nicht dauerhaft. Nachdem die Kernwaffeneinsätze über Hiroshima und Nagasaki den Krieg beendet hatten, war Meitner berühmt geworden und konnte immer wieder Einladungen nach Großbritannien und in die Vereinigten Staaten folgen, um als Gastprofessorin tätig zu sein. Ihr Lebens- und Forschungsmittelpunkt blieb jedoch Stockholm.
Sie besuchte auch immer wieder Deutschland, obwohl ihre Meinung zu den deutschen Wissenschaftlern, die in aller Regel nicht einmal heimlichen Widerstand geleistet hatten, gespalten war. Ihre Freundschaft zu Otto Hahn blieb bestehen. Beispielsweise besuchte sie ihn 1959 zu seinem 80. Geburtstag in Göttingen.
Im folgenden Jahr emeritierte Professorin Meitner und zog nach Cambrigde zu ihrem Neffen Otto, mit welchem sie damals die Kernspaltung erstmals veröffentlicht hatte.
Ihre letzten Jahre verbrachte sie mit Gastvorträgen und mit dem politischen Kampf für eine friedliche Nutzung der Kernenergie. Lise Meitner wurde mit einer Vielzahl von Preisen geehrt, doch der Nobelpreis sollte, wie erwähnt, niemals dazu gehören. Dazu wurde ihr posthum eine noch viel exklusivere Ehre zuteil: Im Jahre 1982 gelang es der Gesellschaft für Schwerionenforschung in Darmstadt das 109. Element herzustellen. 1997 benannten sie es in Gedenken an Lise Meitner als Meitnerium.
Nach einem Herzinfarkt 1964 war Lise Meitner schwer krank und starb schließlich am 27. Oktober 1968 im Alter von 89 Jahren im Schlaf. Sie hatte damit ihren langjährigen Freund Otto Hahn und dessen Frau Edith um wenige Monate überlebt, auch wenn ihre Familie ihr deren Tode verheimlicht hatte, um die kranke Frau nicht noch mehr zu erschüttern. Ihre sterblichen Überreste wurden im Dorf Bramley beerdigt. Ihr Neffe Otto Frisch verfasste die Inschrift ihres Grabsteins: „Eine Physikerin, die nie ihre Menschlichkeit verlor.“ (Englisch: „A physicist who never lost her humanity.“)