Wolfgang von Kempelen, Erbauer des Schachtürken

Name: Wolfgang von Kempelen

Auch bekannt als: Kempelen Farkas (ungarischer Name), Ján Vlk Kempelen (slowakisch)

Lebensdaten: 23. Januar 1734 in Pressburg/Prešporok (heißt heute Bratislava) bis 26. März 1804 in der Alservorstadt (heute ein Teil von Wien)

In aller Kürze: Irgendwo zwischen Tüftler und Zauberkünstler: Wolfgang von Kempelen erfand eine Maschine, die überzeugend vorgaukeln konnte, sie könne auf hohem Niveau Schach spielen. Dieser scheinbare Schachroboter wurde als „der Schachtürke“ berühmt. Bis heute wird er in der Informatik als Metapher verwendet.

Im Detail: Wolfgang von Kempelen wurde am 23. Januar 1734 geboren, in einer Stadt, welche heute Bratislava heißt und die Hauptstadt der Slowakei ist. Damals trug sie auf Deutsch den Namen Pressburg, auf Slowakisch Prešporok und war Teil Ungarns, welches wiederum zur Habsburgermonarchie gehörte. (Der Vielvölkerstaat Österreich sollte 1867 zur Kaiserlichen und Königlichen Monarchie Österreich-Ungarn reformiert werden.) Diese vielvölkische Natur des Habsburgerreichs machte sich in Pressburg durchaus bemerkbar, weshalb von Kempelen auch einen ungarischen Namen (Kempelen Farkas) und einen slowakischen (Ján Vlk Kempelen) trägt.

Er selbst stammte aus einer angesehenen deutschen Familie. Sein Vater Engelbert von Kempelen, dessen jüngster Sohn er war, war 1722 geadelt worden. Sie gehörten allerdings nicht zum hohen Adel, sondern zu einem sehr niedrigen Adelsrang, dem sogenannten Briefadel. Gerade die königliche (und ab 1804 kaiserliche) Monarchie der Habsburger erhob häufig einfache Leute in den sehr niedrigen Adelsstand, um ihre Leistungen zu belohnen und sie damit zu Stützen des monarchistischen Staats zu machen. Im Falle der von Kempelens funktionierte das auch. Die Familie war fest in den Institutionen des Reiches verankert. Engelbert von Kempelen war Hofkammerrat, Wolfgangs Bruder Johann Nepomuk schaffte es im Militär von Österreich-Ungarn bis zum Rang des Generalmajors.

In seiner Heimatstadt Pressburg (Bratislava) besuchte Wolfgang von Kempelen das Gymnasium. Wie für einen Sohn einer königstreuen Familie seines Standes angemessen, ging Wolfgang von Kempelen dann in die Beamtenlaufbahn. Vermutlich studierte er an der Akademie in Győr (auf Deutsch Raab), um sich dort für seine Karriere in der Verwaltung schulen zu lassen.

Zu diesem Zeitpunkt war von Kempelen bereits beeindruckend multilingual und sprach Deutsch, Ungarisch, Französisch, Italienisch und konnte Latein lesen. Man beachte, dass Slowakisch, die lokale Bevölkerungssprache seiner Heimatstadt, nicht zu seinen Fähigkeiten zählte, was für die Machtverhältnisse unter den Habsburgern ziemlich bezeichnend war. Er wird gelegentlich als Slowake bezeichnet, öfter aber als Ungarn oder als Österreicher. Alle drei dieser Zuschreibungen sind Unfug oder zumindest missverständlich.

Wolfgang von Kempelen lebte in einer Epoche, bevor der Nationalismus zur Norm wurde. Ihn als Slowaken, Ungarn oder Österreicher zu reklamieren, ist ebenso unsinnig, wie die Neandertaler-Skelette, die im Neandertal in der Nähe von Düsseldorf entdeckt wurden, als Deutsche zu bezeichnen. Wolfgang von Kempelen kam aus einer Zeit, in welcher sich die Menschen weniger als Angehörige einer Volksgruppe definierten, sondern viel mehr als Untertanen eines oder mehrerer Adeligen. Der Pressburger hätte die Frage, ob er Österreicher, Ungar und Slowake sei, völlig unsinnig gefunden. Für ihn wäre das weder wichtig gewesen, noch hätte es sich gegenseitig ausgeschlossen. (Einen ähnlichen Fall haben wir mit Nikolaus Kopernikus, über den sich manche Leute streiten, ob er nun Deutscher oder Pole war. Er war beides und hätte das weder als Widerspruch, noch als sonderlich wichtig angesehen.)

Dieser Kontext der Zugehörigkeit nicht zu einem Land, sondern zu einer Adelshierarchie ist tatsächlich wichtig, um von Kempelens weiteren Werdegang zu verstehen. Und um festzuhalten, dass er (nach den damaligen Normen) ein braver Bürger war, was noch wichtig werden wird, wenn wir zu seinem Schachtürken kommen.

Zunächst einmal übernahm der Beamte Verwaltungstätigkeiten. Er war Teil einer Kommission, die unter Fürstin Maria Theresia von Österreich das Bürgerliche Gesetzbuch übersetzte, welches in seiner Originalfassung lateinisch gehalten war. (Das war damals Usus bei Gesetzestexten, ähnlich wie heute EU-Gesetze zuerst auf Englisch beschlossen werden und dann in alle Mitgliedssprachen übersetzt werden.) Ab 1765 war er für das Salzwesen und Siedlungswesen in Banat zuständig, einer Region, welche heute zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn aufgeteilt ist. Damit war er de facto in zwei ganz unterschiedlichen Gebieten tätig: Er verwaltete Salzminen und war unter anderem für die Sicherheit in den ungarischen Minen zuständig. Außerdem organisierte er die Wiederbesiedlung einer Region, welche durch Krieg und Katastrophen stark entvölkert wurde.

Allen Berichten nach war Wolfgang von Kempelen sehr geschickt in diesen Tätigkeiten und ein geschätzter Verwalter. Er siedelte mehrere tausend Familien erfolgreich im Banat an, förderte die dortige Wirtschaft, ließ Schulen bauen und Land gewinnen.

Seine Leistungen wurden von der Monarchie gewürdigt. Er wurde zum Hofkammerrat ernannte. Später wurde ihm von der Kaiserin eine hohe Leibrente zugesprochen. 1786 wurde er gar zum Hofrat. Als von Kempelen 1798 mit 64 Jahren in den Ruhestand ging, erhielt er eine stattliche Rente.

Seine verdiente Karriere im Beamtenapparat der Habsburgermonarchie war aber nicht der Grund für seinen zwischenzeitigen Ruhm. Den bekam er durch eine raffinierte Erfindung und das Zeitungsdrama darum. Vermutlich im Jahre 1769 baute Wolfgang von Kempelen seinen Schachtürken, aber sicher sind wir uns bezüglich des Baujahres nicht.

Der Schachtürke war eine Maschine, welche scheinbar Schach spielen konnte. Sie bestand aus einer orientalisch aussehenden und klischeehaft türkisch gekleideten, lebensgroßen Figur, welche an einem kastenförmigen Tisch saß, in dessen Tischplatte ein Schachbrett eingebaut war. Öffnete man die Seitenklappen dieses Kastens, so zeigen sich im Inneren Zahnräder und andere mechanische Bauteile, welche scheinbar den Mechanismus antrieben.

Denn der Schachtürke konnte Schach spielen. Er konnte seinen linken Arm roboterartig bewegen, um Figuren zu setzen. Sein rechter Arm konnte ungeduldig auf den Tisch klopfen, wenn sein Gegenüber zu lange für seinen Zug brauchte. Der ganze Mechanismus wirkte ein wenig gruselig mit seinen abgehakten Bewegungen, zumal er sogar seine leblosen Augen bewegen konnte. Und er spielte wirklich gut Schach. Der Schachtürke, dieser scheinbare Roboter, schlug immer wieder hochqualifizierte Spieler. Für den Beobachter sah es wirklich so aus, als könnte dieses mechanische Wunderwerk das Spiel der Könige auf Weltniveau spielen.

Sie, geneigter Leser, kommen aus einer Zeit, in der die Menschheit tatsächlich Maschinen bauen kann, welche Schach auf Weltniveau spielen. Um das zu erreichen, brauchte es komplexe Mikroelektronik und die Arbeit hunderter Fachleute über Jahrzehnte. Insofern wird es sie wenig überraschen, dass das Ganze ein Zirkustrick war. Der Kastentisch war so gebaut, dass es so wirkte, als könne man durch die Seitenklappen den gesamten Innenraum sehen. Tatsächlich war jedoch Platz genug für einen Menschen, sich zu verstecken. Dieser konnte durch Magnete an den Unterseiten der Figuren die Position auf dem Schachbrett über ihm wahrnehmen. Mittels einer mechanischen Übertragung konnte der versteckte Schachspieler die Figuren des Türken ergreifen und versetzen.

Dass der Schachtürke so gut Schach spielte, lag zum einen daran, dass von Kempelen nur talentierte Schachspieler in sein Geheimnis einweihte und in seiner Maschine versteckte. Zum anderen hatte der Türke aber auch jede Menge psychologischer Kriegsführung auf seiner Seite. Die unmenschliche Maschine mit ihrem fremdartigen Aussehen verunsicherte ihre Gegner sehr. Außerdem spielte man Schach damals noch nicht mit Uhr. Wie viel Zeit sich ein Spieler für seinen Zug nahm, war eher eine Frage der gesellschaftlichen Erwartung und des sozialen Drucks. Während der Mensch sich unter dem Druck sah, halbwegs zeitnah zu ziehen, hatte niemand eine Referenz dafür, wie lange eine schachspielende Maschine für ihren Zug brauchte. Der Türke konnte mit seiner klopfenden Hand sogar zu übereilten Zügen anstacheln. Damit konnte der Steuerer des Schachtürken auch eine unfaire Verteilung der Bedenkzeit erwirken. So einfach ist das.

Dass wir das genaue Baujahr des Schachtürken nicht kennen, ist auch ein Hinweis darauf, dass weder sein Erbauer noch seine direkte Umgebung die Maschine für sonderlich revolutionär hielten. Wolfgang von Kempelen behauptete zu keinem Zeitpunkt, seine Maschine könne ohne menschliche Hilfe Schach spielen. Er deckte aber auch das Geheimnis nie auf, so wie ein Zauberkünstler seine Tricks nicht verrät. Bis zu diesem Punkt war es ein harmloses Kunststück, eine Zirkusnummer, ein Zaubertrick.

Doch dann, und das kann man leider nicht anders ausdrücken, stürzten sich die sensationsgeilen Zeitungen Europas auf die Maschine. Diese behaupteten schnell, von Kempelen hätte tatsächlich einen denkenden Apparat erfunden. Der Schachtürke und sein Erfinder wurden berühmt. Die Maschine spielte gegen die führenden Schachspieler des Kontinents und gewann meistens, aus oben genannten Gründen. Noch längst nicht alle ließen sich täuschen, die intellektuelleren Zeitgenossen von Kempelens waren häufig skeptisch. Aber die breite Masse fiel auf die Berichte der Zeitungen herein.

1783/84 nahm Wolfgang von Kempelen seinen Schachtürken auf Europareise, wo er gegen alle möglichen Führungspersönlichkeiten spielte, angeblich sogar Friedrich den Großen. 1809 spielte die Maschine sogar gegen Napoleon, aber da war von Kempelen bereits tot.

Aufgrund dieses Ruhms und weil die Medien den Schachtürken zu einem Wunderwerk hochstilisiert hatten, wird von Kempelen häufig als Betrüger bezeichnet. Es hielt sich nach seinem Tode sogar das Gerücht, seine Rente als Beamter wäre ihm zur Strafe aberkannt worden. Beides ist völliger Unsinn, Wolfgang von Kempelen war ebenso wenig ein Betrüger wie Harry Houdini oder David Copperfield, und (wie oben erklärt) war er ein geradezu linientreuer Beamter der Habsburger. Von Kempelen scheute sich nicht, mit diesem Zaubertrick und dem Ruhm durch die Zeitungen Geld zu verdienen, aber geplant hatte er das Ganze nie.

Im Gegenteil, die Begeisterung für den Schachtürken lenkte von seinen wichtigeren Leistungen ab. Wolfgang von Kempelen tat sich nämlich weiterhin als kompetenter Verwalter hervor. Außerdem war er als Tüftler brillant. So erfand er die erste Maschine, welche menschliche Sprache nachahmen konnte. Für diese Sprechmaschine hatte von Kempelen die Mechanik der menschlichen Stimme (Stimmlippen, Zunge usw.) genau untersucht und nachgebaut. Es war ein beeindruckender Schritt auf dem Weg zu synthetisch sprechenden Maschinen, wie wir sie heute kennen, und eine enorme wissenschaftliche und ingenieurstechnische Leistung. Von Kempelen nahm auch diese mit auf seine Europareise. Doch sie interessierte kaum jemanden. Die geisterhafte Erscheinung des Schachtürken konnte nicht nur dessen Gegenspieler ablenken, sondern auch das Publikum war davon völlig eingenommen.

Auch nach von Kempelens Tod blieb diese Erfindung im Zeitgeist. Erst Jahrzehnte später, als das Geheimnis dahinter publik wurde, geriet sie langsam in Vergessenheit.

Heute ist der Schachtürke vor allem in der technisch versierteren Welt der Informatik eine gelegentlich gebrauchte Metapher für eine technische Lösung, die es geschickt erlaubt, dass ein Mensch eingreift. Bspw. betreibt Amazon einen Dienst namens Mechanical Turk, welcher Aufgaben lösen kann, für die künstliche Intelligenz (noch) ungeeignet ist. Das tut dieser Dienst, indem er die Aufgaben auf menschliche Mitarbeiter aufteilt, die die eigentliche Denkarbeit erledigen, daher die Metapher.

Auch als weltanschauliche Metapher taugt der Schachtürke. Es gibt eine gewisse Sorte Menschen, denen die wissenschaftliche Weltsicht nicht behagt. Einfach ausgedrückt möchten sie, dass es zusätzlich zu den mechanistischen Naturgesetzen einen weiteren Einfluss in der Welt gibt – zum Beispiel Kreationisten, die einen direkten Einfluss von Gott wünschen, Neuheiden, die eine magische Kraft der Natur haben wollen, oder Leute, die nicht glauben wollen, dass Denken eine reine Funktion des Gehirns ist. Es erscheint ihnen so, als wäre die Welt weniger wertvoll, wenn es keine magische Kraft dahinter gibt.

Der Schachtürke bietet hier ein starkes Gegenbeispiel: Versetzen Sie sich in die Position eines Zuschauers aus dem 18. Jahrhundert, der die Maschine spielen sieht. Vergessen Sie für einen Moment, dass es mit Ihrem Hintergrundwissen offenkundig erscheint, dass hier ein Trick vorliegen muss. Welche Erklärung hätten Sie beeindruckender gefunden? Dass hier eine Maschine vorliegt, deren raffinierte Zahnräder und Mechanismen ineinandergreifen und einen Verstand hervorbringen, welcher Schach spielen kann? Oder dass als dies bloß Beiwerk ist, der eine heimliche Hand im Hintergrund verschleiert, welche immer wieder eingreifen muss, weil der Mechanismus nicht großartig genug ist? Friedrich der Große zumindest soll sehr enttäuscht gewesen sein, als er erfuhr, dass es eben nicht bloße Mechanismen waren, die den Schachtürken spielen ließen.

Diese metaphorischen Einsätze des Schachtürken erlebte sein Erbauer allerdings nie. Er verstarb 1804 im Alter von 70 Jahren.

5 Kommentare zu „Wolfgang von Kempelen, Erbauer des Schachtürken

Gib deinen ab

  1. Ich habe in dem tollen Text einen Rechtschreibfehler gefunden:
    Von Kempelen -nach- +nahm+ auch diese mit auf seine Europareise. Doch sie interessierte kaum jemanden. Die geisterhafte Erscheinung des Schachtürken konnte nicht nur dessen Gegenspieler ablenken, sondern auch das Publikum war davon völlig eingenommen.
    Vielen Dank!

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      1. Wenn Du möchtest, lese ich Deine Texte vor der Veröffentlichung und entferne alle Fehler.

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      2. Vielen Dank. Komme ich gerne drauf zurück. Momentan bin ich wegen Brückentagen und Familiepflichten allerdings froh, wenn ich den nächsten Artikel einen Tag davor fertig habe. Da bleibt keine Zeit fürs Hinundherschicken. Wenn ich wieder aufgeholt habe, melde ich mich.

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