Name: Georges Henri Joseph Édouard Lemaître
Lebensdaten: 17. Juli 1894 in Charleroi bis 20. Juni 1966 in Löwen
In aller Kürze: Die zentrale Theorie zum Ursprung des Universums wurde von einem katholischen Priester verfasst: Georges Lemaître entwickelte die Urknalltheorie. (Ob das passend oder unpassend ist, dass diese Erkenntnis auf ein Mitglied des katholischen Klerus zurückgeht, ist wohl Ansichtssache.)
Im Detail: Georges Lemaître wurde am 17. Juli 1894 in Charleroi geboren. (Das liegt im Französisch sprechenden Teil von Belgien.) Schon als Kind wollte er Wissenschaftler werden. Gleichzeitig ging er auf eine Jesuitenschule und wurde als Erwachsener auch Teil des katholischen Klerus. Entgegen dem Klischee sahen weder er noch seine Umgebung das als Widerspruch an, doch dazu später mehr.
Nach seinem Schulabschluss begann Lemaître mit 17 Jahren ein Studium des Bauingenieurwesens an der Katholischen Universität Löwen. Dieses unterbrach er im Alter von 20 Jahren jedoch wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Während die deutsche Reichswehr das kleine Land überrollte, um über die Nordflanke in Frankreich einzufallen, meldete sich Georges Lemaître freiwillig für den Kriegsdienst. (Wie schon bei David Railton und Martin Niemöller erwähnt, war der Klerus auf beiden Seiten des Konflikts aktiver Teil der Kriegsanstrengungen – und Lemaître war zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Prieser.) Er diente in einer belgischen Artillerieeinheit. Am Ende des Krieges wurde Lemaître für seinen Einsatz fürs Vaterland mit dem belgischen Kriegskreuz ausgezeichnet.
Nach dem Krieg kehrte er an die Katholischen Universität Löwen zurück, wechselte jedoch in die Fächer Physik und Mathematik. Gleichzeitig schrieb er sich in einem Priesterseminar ein, um in den Klerus zu gehen. Er wählte allerdings nicht die Jesuiten, auf deren Schule er als Jugendlicher gegangen war, sondern entschied sich für die Erzdiözese Mecheln. Beide Ausbildungen schloss er mit Erfolg ab: 1920 erlangte er seinen Doktorgrad mit der Dissertationsschrift Näherung von Funktionen mehrerer reeller Variablen (franz.: L’approximation des fonctions de plusieurs variables réelles). 1923 beendete er dann seine theologische Ausbildung und wurde vom Kardinal von Mecheln zum Priester geweiht.
Im Anschluss ging Doktor Lemaître nach England an die Universität Cambridge. War er bis dahin vor allem mathematisch interessiert und nur zweitranging Physiker, verschob sich hier sein Fokus. Der berühmten Astrophysiker Arthur Eddington (später Sir Arthur Eddington) konnte ihn dafür begeistern, wie man die Bewegung von Himmelskörpern mit modernen Methoden der Mathematik berechnen und vorhersagen kann. 1924/25 verbrachte er dann ein Jahr in den Vereinigten Staaten an der Sternwarte von Harvard. (Harvard ist übrigens nicht nach einer Stadt benannt, sondern nach dem Gründer dieser Eliteuniversität. Es liegt tatsächlich in einer Stadt in Massachusetts die ebenfalls den Namen Cambridge trägt, wie auch die Stadt in England, nach der sie benannt wurde. Dass Lemaître also von einem Cambridge über den Atlantik in ein anderes Cambridge umzog, macht die Recherche über sein Leben wirklich unnötig verwirrend. Aber das nur nebenbei.)
Im Jahre 1925 kehrte Georges Lemaître nach Belgien zurück. An seiner Alma Mater, der Katholischen Universität Löwen, bekam er eine Anstellung als Dozent in Teilzeit. Nebenbei arbeitete er in der theoretischen Astrophysik. Zwei Jahre später veröffentlichte er seine bahnbrechende Arbeit Ein homogenes Universum mit konstanter Masse und zunehmendem Radius, das für die Radialgeschwindigkeit extragalaktischer Nebel verantwortlich ist (franz.: Un Univers homogène de masse constante et de rayon croissant rendant compte de la vitesse radiale des nébuleuses extragalactiques).
Darin leitet Lemaître mit Hilfe der Feldgleichungen aus Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie her, dass das Universum sich ausdehnen muss. Daraus folgt natürlich, dass es seine Expansion aus einem unendlich dichten Zustand begonnen haben muss – was wir heutzutage den Urknall nennen. Der Kosmologe Alexander Alexandrowitsch Friedmann war übrigens schon zuvor zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Dennoch hatte Lemaîtres Artikel mehr Schlagkraft und war zusammen mit der Forschung Edwin Hubbles ein wichtiger Schritt in Richtung Urknalltheorie.
Diese neue Theorie erklärte zwar das Olbers’sche Paradoxon, hatte ansonsten aber eher wenig solide Beobachtungen auf ihrer Seite. Selbst Hubbles Messungen waren zurecht umstritten, weil er gleichzeitig eine neue Messmethode und ein neues Ergebnis vorstellte. Heute wissen wir, dass Friedmann, Lemaître und Hubble Recht hatten, aber im Rückblick lässt sich das leicht sagen. Erst mit der Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung 1964, die Georges Lemaître nach knapp miterleben sollte, wurde die Urknalltheorie gut belegt.
Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass seine Theorie die Fachwelt nicht sofort überzeugte. In seinem Artikel war Lemaîtres Mathematik einwandfrei, was seinen Kritikern nur erlaubte, die Formeln anzupassen, die er verwendete. Albert Einstein ging in die Annalen ein, weil er eine zusätzliche, sogenannten kosmologische Konstante in seine Theorie einführte, um ein statisches Universum zu erhalten. Wie viele Physiker damals ging auch Einstein davon aus, das Universum hätte schon ewig existiert. Einstein sollte diese krude Anpassung später als größte Eselei seines Lebens bezeichnen. Auch Lemaîtres alter Mentor, Arthur Eddington, fand die Hypothese seines Zöglings zwar interessant, war aber nicht restlos überzeugt. Es sollte noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis solide Belege hier den wissenschaftlichen Konsens formen konnten. Der Begriff „Urknall“ (engl. „Big Bang“) wurde tatsächlich von Fred Hoyle, einem sehr lauten Kritiker des Konzepts erfunden und ist bewusst lächerlich. Eine Ausdehnung des Raums als Knall zu bezeichnen, ist für Physiker offensichtlich absurd.
Man könnte eine zweite Kontroverse vermuten, die es aber nie gab: Wenn ein katholischer Geistlicher eine Theorie zum Ursprung des Universums (theologisch oder poetisch: der Schöpfung) veröffentlicht, dann könnte das Vorurteil hier einen Konflikt vermute. Das ist allerdings eine Vorstellung, die sich in den letzten Jahrzehnten durch den Einfluss amerikanischer Medien verbreitet hat, weil es in den USA so viele Kreationisten gibt.
Warum das in europäischen Kirchen (in jedweder großen europäischen Kirche, egal welcher Konfession) ziemlich unspektakulär verläuft, liegt am Konzept des Naturgesetzes. Dieses wurde vor allem von René Descartes entwickelt und war ursprünglich ein massiv theologisch aufgeladenes Konzept. Die Idee war, so wie Menschen ihren Gesellschaften Gesetze auferlegen, so lege Gott seiner Schöpfung Gesetze auf. Salopp formuliert könnte man diesen Ansatz zusammenfassen mit: Gott muss Besseres zu tun haben, als Planeten höchstpersönlich durch die Gegend zu bewegen. Stattdessen hat er das Gravitationsgesetzt geschaffen, um das nicht selbst erledigen zu müssen.
Auch wenn Descartes katholisch war, verbreitete sich diese Idee unter alle Kirchen in Europa, vor allem, weil die Priesterausbildung hier primär eine universitäre Angelegenheit ist. Deshalb war die Reaktion der Anglikanischen Geistlichkeit auf Darwins Evolutionstheorie auch nicht annähernd so empört, wie spätere Legenden sie hochstilisierten. Die Reaktion der meisten Priester schien in etwa gewesen zu sein: „Ach, mit diesem Naturgesetz erschafft Gott Spezies. Das ist ja raffiniert. Können wir jetzt weiter Seelen retten?“ (So die Reaktion in Europa. In den USA, wo diese akademische Ausrichtung geringer war und ist, kochte und kocht das Ganze deutlich stärker hoch.)
Georges Lemaître war deshalb ein geradezu archetypisches Beispiel eines Mannes, in dessen Weltbild und Lebenswerk Religion und Wissenschaft friedlich nebeneinander existierten.
In seiner späteren Karriere als Wissenschaftler sollte Georges Lemaître die Astrophysik weiter bereichern. 1933 publizierte er eine verfeinerte Version seiner Urknall-Hypothese. Er forschte an kosmischer Hintergrundstrahlung und schlug auch vor, diese könnte ein Überbleibsel des Urknalls darstellen. (Diese Hypothese wurde 1964 durch Arno Penzias und Robert Woodrow Wilson bestätigt, die das Signal dieser Strahlung weitestgehend durch puren Zufall entdeckten.) 1941 wurde er in die belgische Akademie der Wissenschaften aufgenommen.
Außerdem blieb Lemaître in der Forschung stets an der vorderen Front der Technik. So gehörte es zu den ersten begeisterten Nutzern von Computern, um Fragestellung zu beantworten und Himmelsmechanik zu simulieren. Damit war und blieb er einer der angesehensten Astrophysiker seiner Zeit.
Doch auch im Klerus stieg Lemaître weiter auf, was durchaus mit seiner wissenschaftlichen Karriere überlappen konnte. So wurde er 1936 in die Päpstliche Akademie der Wissenschaften (lateinisch: Pontificia Academia Scientiarum) aufgenommen.
Von da an kam das oben angesprochene Thema des Zusammenhangs zwischen Urknall und Schöpfungslehre immer wieder auf. Georges Lemaître lehnte dabei stets sowohl eine direkte Einbeziehung der Naturwissenschaft in die Heilslehre als auch einen angeblichen Konflikt ab. Aus oben genannten Gründen sah er keinen Widerspruch, wollte die katholische Theologie aber auch nicht auf ein Fundament stellen, welches sich später als falsch herausstellen könnte.
Während der 1950er schied der alternde Mann zunehmend aus dem wissenschaftlichen Diskurs aus und konzentrierte sich auf kirchliche Belange. Groß aktiv wurde er in dieser Zeit eigentlich nur noch 1962: Als die Katholische Universität Löwen (welches in Flandern liegt, wo man Flämisch spricht) Französischsprachige ausschließen wollte, protestierte Lemaître laut, auch weil er Betroffener wäre.
Seine Stellung in der Kirche war dafür weiterhin unangefochten. Ab 1960 bis zu seinem Tod war Georges Lemaître Präsident der Päpstliche Akademie der Wissenschaften. Während des 2. Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965) wollte Papst Johannes XXIII. ihn gar nach Rom holen in eine Kommission zum Thema Geburtenkontrolle. Der mittlerweile ziemlich kranke Lemaître lehnte mit Verweis auf seinen Gesundheitszustand dankend ab. Er sah sich wohl auch nicht qualifiziert, als Mathematiker und Astrophysiker über solche Fragen urteilen zu können. Hier zeigte er gesundes Maß an Weisheit, zu wissen, in welchen Gebieten er sich nicht auskannte und kein Urteil fällen konnte. (Spötter könnten gar meinen, es sei für einen katholischen Priester ungewöhnlich weise, sich da herauszuhalten, ob und wie andere Leute verhüten.) Georges Lemaître starb am 20. Juni 1966 in Löwen, kurz nachdem er erfahren hatte, wie die frische Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung seine Urknalltheorie solide belegte.
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